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Die verrücktesten 24 Minuten Fussball

Am torreichsten und wohl spektakulärsten Spiel der WM-Geschichte waren die Schweizer beteiligt. Im Viertelfinal der WM 1954 im eigenen Land erzielten sie fünf Tore, die Österreicher aber zwei mehr.

Agentur
sda
07.06.18 - 09:21 Uhr
Fussball
Zwölf Tore, neun davon innerhalb von 24 Minuten vor der Halbzeit, und es hätten noch mehr sein können: Hier verschiesst der Österreicher Koerner kurz vor der Pause einn Elfmeter
Zwölf Tore, neun davon innerhalb von 24 Minuten vor der Halbzeit, und es hätten noch mehr sein können: Hier verschiesst der Österreicher Koerner kurz vor der Pause einn Elfmeter
KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR

Das Spiel am Samstag, 26. Juni 1954, im Stade Olympique de la Pontaise in Lausanne war viel zu aussergewöhnlich, als dass sich heute keine Mythen und Legenden darum ranken würden.

Die Weltmeisterschaft in der Schweiz war auch die WM der schwülen Wärme. Der Viertelfinal zwischen der Schweiz und Österreich ist längst als «Hitzeschlacht von Lausanne» verewigt. Dennoch lässt sich die Rekordzahl von zwölf Toren in einem WM-Spiel keineswegs nur mit den subtropischen Bedingungen erklären.

Die Österreicher hatten sich nach den Gruppenspielen eine Woche lang ausruhen können. Die Schweizer mussten sich in einem Entscheidungsspiel um den zweiten Gruppenplatz gegen Italien durchsetzen und hatten danach drei Tage Pause. Man darf also annehmen, dass die 22 Spieler zumindest in der ersten Halbzeit bei Kräften waren. Die Österreicher sowieso. Neun der sagenhaften zwölf Tore fielen jedoch nicht gegen Schluss, sondern innerhalb von nur gerade 24 Minuten zwischen der 16. und der 39. Minute. Es werden vielleicht auf ewig die verrücktesten 24 Minuten der Fussballgeschichte bleiben.

Heute wird kolportiert, man habe am Spieltag in Lausanne 40 Grad gemessen. Das Spiel fand allerdings nicht am Nachmittag statt, es wurde um 17.30 Uhr angepfiffen. Der anwesende Chronist der Fachzeitung «Sport» schrieb von «ziemlich grosser Hitze, aber etwas erfrischendem Wind».

Als die neun Tore im durchschnittlichen Abstand von drei Minuten fielen, waren die Spieler auf dem Platz noch keine toten Fliegen. Deswegen wäre es vielleicht treffender, von einem Sportwunder zu schreiben als von einer Abnützungsschlacht in der Hitze. Der Match war insofern der Höhepunkt einer Weltmeisterschaft, in der die Angriffsreihen mehr dominierten als jemals vorher und nachher. In den 26 Spielen fielen 140 Tore. Der Durchschnitt von 5,38 Toren steht einsam da.

Auch die Schweizer Mannschaft stellte in dem Match unfreiwillige Rekorde auf. Sie führte (nach nur 19 Minuten) 3:0 und verlor dennoch. Das Basler «Goldfüsschen» Seppe Hügi traf dreimal, der Bern-Jurassier Robert Ballaman von der Grasshoppers zweimal. Dass bis heute keine andere Mannschaft mit einem dreifachen und einem zweifachen Torschützen jemals ein WM-Spiel verlor, versteht sich.

Den Blitzstart der Schweiz konterte Österreich mit fünf aufeinanderfolgenden Toren in den Minuten 25, 26, 27, 32 und 34. Nach 39 Minuten brachte Ballaman die Eidgenossen mit dem Anschluss zum 4:5 zurück. Die verrückten 24 Minuten könnte man auf verrückte 27 Minuten erweitern. Nach 42 Minuten nämlich bekam Österreich einen Foulpenalty zugesprochen. Eugène Parlier wehrte den Schuss von Mittelstürmer Alfred Körner ab, der kurz vorher schon zweimal getroffen hatte. Wie die Schweiz stellte auch Österreich einen dreifachen (Theodor Wagner) und einen zweifachen Torschützen (Körner).

Nach der Pause fielen weitere drei Tore, aber das Spiel nahm normalere Züge an. Die Torfolge lautete 4:6, 5:6 (Hügi) und - nach 76 Minuten - 5:7. Erwiesen ist, dass Österreichs Goalie Kurt Schmied einen Sonnenstich erlitt. Er musste weiterspielen, weil damals noch keine Auswechslungen erlaubt waren. Österreichs Defensive mit dem legendären Ernst Happel im Zentrum gelang es in der zweiten Halbzeit, den Goalie abzuschirmen. Auch der Chronist des «Sport» schien in der Schlussphase zu verzweifeln. Er schrieb: «Österreichs Torhüter konnte von den abgekämpften Schweizern, denen das Reaktionszentrum wie eine des Stroms beraubte Telefonzentrale versagte, die nur noch Willen, aber schliesslich keine gehorchenden Beine mehr hatten, nicht besiegt werden.»

Ausgerechnet im Match gegen seine Landsleute musste der Schweizer Nationalcoach Karl Rappan erleben, wie sein avantgardistisches Dispositiv, der «Rappan-Riegel», ein ums andere Mal nicht funktionieren wollte. Warum dies so war, darüber könnte heute noch der Stürmer Roger Vonlanthen, in den Siebzigerjahren ebenfalls Nationalcoach, Auskunft geben. Der Genfer ist 87 Jahre alt und der letzte noch lebende Spieler aus der damaligen Elf.

Seppe Hügi starb 1995 mit erst 65 Jahren. Jacky Fatton und Kiki Antenen starben 2011 innerhalb weniger Wochen im Alter von 85 Jahren. Zuletzt mussten Charles Casali 2014 und Eugène Parlier 2017 gehen.

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