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Nicht nur am Frauenstreik

Streikkultur: Wie und wofür die Schweiz streikte und es noch immer tut.

Bündner Woche
14.06.23 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Generalstreik 1918: Gefordert wurde unter anderem eine 48-Stunden-Woche.
Generalstreik 1918: Gefordert wurde unter anderem eine 48-Stunden-Woche.
ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

von Susanna Bosch

Dieses Jahr haben nebst feministischen Streikkollektiven auch mehrere Gewerkschaften zum landesweiten feministischen Streik aufgerufen. Ziel ist es, an die grossen Mobilisierungen von 1991 und 2019 heranzukommen. Mehrere hunderttausend Menschen gingen damals auf die Strasse, um feministische Forderungen laut zu machen. Ähnlich hohe Zahlen sind im Schweizer Arbeitskampf erst einmal erreicht worden: am landesweiten Generalstreik von 1918.

Vor bald 105 Jahren rief das Oltener Aktionskomitee (OAK), damaliger Führungsstab der Arbeiterschaft, am 11. November 1918, zum ersten Landesstreik in der modernen Geschichte der Schweiz aus. Über eine Viertelmillion Menschen im ganzen Land legten am Folgetag ihre Arbeit nieder. Sie forderten unter anderem eine 48-Stunde-Woche, Nationalratswahlen nach dem Proporzsystem, die Einführung einer Altersvorsorge und das Stimm- und Wahlrecht für Frauen.

In den Städten häuften sich Proteststreike

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatten politische Protestaktionen und Demonstrationen in ganz Europa zugenommen. So auch in der Schweiz. Die Lohnabhängigen waren von grossen Einkommensverlusten betroffen, während die Preise weiter anstiegen und es an Lebensmitteln und Wohnraum fehlte. In den Wochen vor dem Landesstreik wurden die Stimmen nach sozialen und politischen Veränderungen lauter. In den Städten häuften sich Proteststreike, die bürgerliche Revolutionsängste hervorriefen. Die Stadt Zürich wurde militärisch besetzt, mitunter zur Einschüchterung der Arbeiterschaft. Aus Solidarisierung und Protest gegen die Repression proklamierte das OAK einen unbefristeten Generalstreik.

Felix Calonder, damaliger Bundespräsident und erster Rätoromane in der Landesregierung, reagierte unmittelbar und beantragte im Namen des gesamten Bundesrates die ultimative Beendigung der Arbeitseinstellung. Dennoch hielt der Streik drei Tage lang an und wurde von einem massiven Armeeeinsatz begleitet. Mehr als 95 000 Soldaten wurden dazu aufgerufen, «für Ruhe und Ordnung zu sorgen». Am Tag der Niederlegung des Streiks wurden in Grenchen, Solothurn drei junge Uhrenarbeiter erschossen.

Gestärkt aus den Geschehnissen heraus

Am Generalstreik besonders stark beteiligt waren die Arbeiterinnen und Arbeiter der Eisenbahn. Ihnen gelang es, die Bewegung von den grossen Industriezentren aus in ländliche Gebiete zu tragen. So wurden in Graubünden die Beschäftigten der Rhätischen Bahn zu den Protagonistinnen und Protagonisten des Generalstreiks. Zentrum der Bewegung waren Chur und Davos. Aber auch in Rabius, Sumvitg oder Disentis streikte das Bahnpersonal und riskierte damit Verhaftungen und Stellenverluste. Ein weiterer involvierter Berufszweig war die typografische Industrie. Zahlreiche Arbeiterinnen und Arbeiter Bündner Buchdruckereien oder Zeitungsverlage folgten dem Aufruf des OAK. Die Engadiner Wochenzeitung Fögl d'Engiadina wies ihre Leserinnen und Leser damals darauf hin, selbst Opfer des Streiks geworden zu sein: Ihre Druckerinnen und Drucker hätten die Werkstätten am Dienstag verlassen, für die Umstände bitten sie um Entschuldigung.

Obwohl der Streik frühzeitig abgebrochen wurde und politische Repression, Verhaftungen oder Stellenverluste zur Folge hatte, ging die Arbeiterschaft gestärkt aus den Geschehnissen heraus: Mit ihren Forderungen haben sie eine Diskussionsgrundlage für zahlreiche Sozialreformen des 20. Jahrhunderts geschaffen.

Frauenstreik 1991: Die grösste öffentliche Mobilisierung seit dem Landesstreik im Jahr 1918. Bild ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Frauenstreik 1991: Die grösste öffentliche Mobilisierung seit dem Landesstreik im Jahr 1918. Bild ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Gegenwärtig wird in der Schweiz offiziell vergleichsweise wenig für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. 2021 hat das Bundesamt für Statistik lediglich drei Arbeitsstreiks erfasst, die länger als einen Tag andauerten. Diese betrafen die Bereiche Gesundheit- und Sozialwesen, öffentliche Verwaltung und Verkehr sowie Lagerei. Anders sieht es im naheliegenden Ausland aus. Dort ist der Streik ein viel eingesetztes Mittel im Arbeitskampf. Während in der Schweiz zwischen 2012 und 2021 jährlich knapp ein Arbeitstag pro 1000 Beschäftigte ausgefallen ist, waren es im gleichen Zeitraum in Deutschland 4,8 und in Frankreich rund 92 Tage.

Die Schweizer Bundesverfassung garantiert den Streik als legitimes Recht von Arbeiterinnen und Arbeitern: «Der Streik ist im Arbeitskampf eine von der Gewerkschaft organisierte, gemeinschaftliche Verweigerung der Arbeitsleistung durch mehrere Arbeitnehmer zum Zweck der Durchsetzung bestimmter Arbeitsbedingungen.» Weiter hält sie fest, dass ein Streik nicht gegen eine Friedenspflicht verstossen darf, die in der Schweiz in vielen Gesamtarbeitsverträgen verankert ist. Gestreikt werden darf demnach erst dann, wenn alle anderen Möglichkeiten für eine Einigung gescheitert sind. Ist das der Fall, setzen sich die Gewerkschaften oder Angestelltenverbände ein und unterstützen Belegschaften, die einen Arbeitskonflikt durchführen wollen. Laut Unia, der grössten Gewerkschaft in der Schweiz, endet eine Mehrheit dieser Konflikte in einem vollen oder teilweisen Erfolg.

Branchenübergreifender Arbeitskampf

Beispielhaft dafür ist der landesweite Bauarbeiterstreik von 2002, an dem 15 000 Arbeitende auf die Strassen gingen und sich die Einführung der Frühpensionierung mit 60 erkämpften. Auch in St. Moritz wurde damals auf drei Baustellen die Arbeit niedergelegt. Beteiligt waren über 80 Bauarbeitende, die teils aus Chur und Umgebung ins Oberengadin angereist waren. Fünf Jahre später streikte die Schweizer Baubranche erneut. Im Streit zwischen den Arbeitenden und Baumeisterinnen und Baumeistern ging es um einen neuen Gesamtarbeitsvertrag. Einige hundert Bauarbeitende blockierten die damals grösste Baustelle Europas: Die Neat-Baustellen für den Gotthardbasistunnel, darunter auch den grössten Standort in Sedrun.

Streiktätigkeit nimmt wieder zu

Gewerkschaften beobachten, dass die Streiktätigkeit in der Schweiz in den vergangenen 20 Jahren zugenommen habe. In den offiziellen Statistiken würden jedoch kurze Warnstreiks oder Aktionen ausserhalb der Arbeitszeiten nicht registriert werden. Weiter seien auch immer mehr Arbeitskämpfe im Dienstleistungssektor, also in Branchen ohne klassische Streiktradition, zu verzeichnen. Die Gewerkschaft im Service Public (VPOD) unterstützt beispielsweise Beschäftigte im Gesundheitswesen in ihrem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gegen die systematische Benachteiligung von klassischen Frauenberufen.

Streiks und andere Arbeitskämpfe sind demnach bei Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch bei Angestellten im Aufschwung. In diesem Zusammenhang spielt der feministische Streik eine wichtige Rolle: Am 14. Juni 1991 gelang dem feministischen Streikkomitee die grösste öffentliche Mobilisierung seit dem Landestreik von 1918. Mehrere hunderttausend Menschen haben damals an verschiedenen Aktionen in der ganzen Schweiz teilgenommen. Die Geschehnisse machten deutlich, dass wir in unser gegenwärtiges Arbeitsverständnis auch unbezahlte Arbeit miteinbeziehen und den Streikbegriff ausweiten müssen.

Neben zahlreichen politischen Forderungen wurde 1991 auch feministisch für Arbeitsrechte gestreikt. Die Umsetzung der Lohngleichheit steht vielerorts heute noch aus und gehörte zu den Hauptforderungen der feministischen Streiks der vergangenen vier Jahre. 2019 gingen in der Schweiz eine halbe Million Menschen für feministische Anliegen auf die Strasse. Chur erlebte mit über 1000 Teilnehmenden eine der grössten politischen Mobilisierungen der Stadtgeschichte.

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