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Der verlorene Lehrersohn

Der ehemalige Näfelser Klosterschüler Markus Timo Rüegg haut 1981 aus dem Linthgebiet ab. Der Sohn des Lehrers ist weg – und niemand weiss, wohin er ging. Der Journalist klärt nun das Rätsel in einer autobiografischen Erzählung.

Fabio
Wyss
20.11.19 - 04:30 Uhr
Kultur
Gläubiger Rebell aus dem Linthgebiet: Markus Timo Rüegg veröffentlicht seine aussergewöhnliche Lebensgeschichte.
Gläubiger Rebell aus dem Linthgebiet: Markus Timo Rüegg veröffentlicht seine aussergewöhnliche Lebensgeschichte.
FABIO WYSS

Er gab sich gegen aussen als Marco, den selbstbewussten Fussballer. Niemand kannte seine wirkliche Geschichte.

Der Weg des Sohnes vom Dorflehrer scheint vorgespurt: Ein Pfarrer oder Pädagoge soll aus ihm werden. Doch der Klosterschüler rebelliert. Schliesslich bricht der 16-Jährige aus der ländlichen Einöde aus, brennt nach Italien durch. Dort – über 1000 Kilometer von der Heimat entfernt – wartet die drei Jahre ältere Frau seiner Träume auf ihn. Das alles klingt schwer nach einem kitschigen Liebesroman; es ist aber die soeben erschienene Biografie des Benkners Markus Timo Rüegg.

Klosterschule und Pink Floyd

Der Titel «Mein Weg zu Padre Pio» verrät schon, dass die Geschichte den Anspruch stellt, mehr als eine süffige Lovestory zu sein. Der Glaube spielt ebenso eine Rolle wie die rebellische Rockmusik der Siebzigerjahre. Rüeggs Jugend wurde durch diese Kontraste geprägt: Klosterschule und Pink Floyd.

Die Leser würden eine andere Seite von ihm kennenlernen, verspricht der Autor. Welche andere Seite meint der 54-Jährige? Rüegg kennt man in See-Gaster: als ehemaligen Verlagsleiter der «Linth-Presse-Zeitung», als langjährigen Inhaber der Uzner Kunstgalerie «Zur grünen Tür» oder heute noch als Fotografen und Schreiberling für die «Linth-Zeitung».

Geltungsdrang oder Selbstzweck?

Man muss nicht viel mit dem Genussmenschen verkehren, um zu erkennen, dass man es mit einem erfahrenen Lebemann zu tun hat. Zu erkennen, dass er wohl als Jugendlicher schon Flausen im Kopf hatte, benötigt nicht viel Fantasie. Wieso also dieses Buch? Frönt ein Mann jenseits der Midlife-Crisis seinem Geltungsdrang?

Sein Abgang endet abrupt. «Che merda!», wie es Rüegg an einer anderen Stelle im Buch schreibt.

Rüegg verneint. Schon wenige Jahre, nachdem er nach Italien abgehauen war, habe die Idee herumgegeistert, das Erlebte niederzuschreiben. Über 30 Jahre trug er den Gedanken mit sich herum und sagt deswegen: «Das Buch schrieb ich wegen mir. Was andere denken, ist mir egal, ausser ich frage explizit nach.»

Es war ein langes Hin und Her zu den 160 Seiten. Diverse Anläufe versandeten. Vor ziemlich genau einem Jahr reiste er zu einer erneuten Recherche ins süditalienische San Giovanni Rotondo, dem Ort, wo alles begann. «Dort stellte ich mir die Frage, soll ich die Buchidee begraben oder auferstehen lassen?» Er entschied sich für Letzteres. Aus einem einfachen Grund: «Sonst beschäftigt mich das Thema noch als 70-Jähriger.»

Winnetou-Buch verrät Rüegg

Reiner Selbstzweck ist das Buch aber nicht. Als Lehrersohn Rüegg im Sommer 1981 von zu Hause ausriss, dominierte sein Abgang den Dorftratsch in Benken. Kein Abschiedsbrief, weder Lehrmeister, Freunde oder Familie wussten irgendetwas. «Ich war überzeugt, nicht mehr zurückzukehren», sagt Rüegg, der kurz davor eine Lehre in einem Schmerkner Sportgeschäft angetreten hatte. Nach knapp drei Monaten kommen ihm die Eltern auf die Spur. In einem seiner Winnetou-Bücher finden sie eine italienische Telefonnummer. Es ist jene seiner Liebhaberin. Sein Abgang endet abrupt. «Che merda!», wie es Rüegg an einer anderen Stelle im Buch schreibt.

Seine Geschichte habe damals gleichgesinnte Jugendliche in der Umgebung fasziniert. «Viele hatten ebenfalls ihre Probleme», sagt Rüegg. Er ermunterte aber niemanden, dasselbe zu tun. «Jeder muss seinen eigenen Weg gehen.» Im besten Fall für Rüegg spricht das Buch heute noch den einen oder anderen sorgenvollen Teenager an: Wenn das Buch nur zwei Jugendlichen eine Hilfestellung biete, habe er sein Ziel erreicht. Das Verhältnis zu seinen Eltern sei seit der Rückkehr «ausgesprochen gut», sagt Rüegg. Er habe früh die Differenzen geklärt. «Viele machen das erst viel später – meist ist es dann zu spät.»

Fussballer klaut und hungert

Sein damaliger Umgang mit Sorgen empfiehlt sich aber keineswegs zur Nachahmung: In Italien habe er Esswaren geklaut – wegen Hunger und Geldsorgen. Wenn die Familie seiner Romanze ihn zum Essen einlud, langte er ausgiebig zu. Welcher «Mamma» würde das nicht gefallen?

Er gab sich gegen aussen als Marco, den selbstbewussten Fussballer. Niemand kannte seine wirkliche Geschichte.

Gegen aussen gab er sich als der selbstbewusste Fussballer namens Marco. Seine Geschichte kannte niemand. Er war einfach der Neue aus der Schweiz, in der ersten Mannschaft des lokalen Fussballvereins – in der er übrigens mit dem amtierenden italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte zusammenspielte.

Rüegg schreibt die «autobiografische Erzählung», wie er sie kategorisiert, mit einfachem Satzbau, illustriert mit insgesamt 72 Abbildungen. «Ich erzähle die Geschichte nicht mit meinem heutigen Wortschatz, sondern mit jenem des 17-jährigen Timo», sagt der ehemalige Chefredaktor vom «Lokalradio Wil». Dennoch bezeichnet er seine sechste Publikation als «das ganz klar schwierigste Buch, das ich schrieb».

Hinter Madonna vor Maradona

«Mein Weg zu Padre Pio» bezieht sich auf den Heiligen Pater Pio. Seinetwegen ist San Giovanni Rotondo ein beliebter Wallfahrtsort. Über den Kapuziner-Pater schreibt Rüegg: «Er kommt kurz hinter der Madonna und weit vor dem ehemaligen Starfussballer Diego Armando Maradona.» Ein Jahr, bevor er nach Italien ausgerissen war, schickten Rüeggs Eltern ihren Markus auf eine Pilgerfahrt in die süditalienische Kleinstadt – in der Hoffnung, der aufmüpfige Zweitgeborene komme zur Vernunft. Stattdessen verliebt er sich in eine Einheimische und geht ein paar Monate später freiwillig wieder – aber nicht mehr zum Beten …

Den Buchumschlag ziert eine lebensgrosse Heiligenstatue Padre Pios, neben der Rüegg posiert. Dieses Sujet sei für ihn logisch gewesen, sagt Rüegg. Er wirkt darauf aber unvorteilhaft, trägt eine Sonnenbrille, was bei professionellen Fotos generell vermieden werden soll. Es sei eine Spielerei, entgegnet Rüegg, der mit dem Foto südländisches Flair, eine «Italianità», hervorrufen möchte. Selbst seine Liebsten könnten dem Bild nicht viel abgewinnen, gibt Rüegg zu. Fotografiert hat es ein asiatischer Tourist. Das «schluffige» Bild täuscht über den Inhalt des Buches hinweg. Dieses dürfte Altrocker und Gläubige ebenso ansprechen wie trotzige Teenager. «Immer, wenn ich etwas im Sinn hatte, habe ich es gemacht», sagt Rüegg. Das trifft auf sein Leben, sein Buch und die Bildauswahl zu.

Buchvernissage am 24. November in Näfels
Am Sonntag, 24. November, um 15 Uhr, findet im Näfelser Tolderhaus die Buchvernissage zu «Mein Weg zu Padre Pio» statt.
Der Eintritt ist frei, Autor Markus Timo Rüegg lädt zum Apéro ein. Interessierte werden gebeten, sich unter der Telefonnummer 079 374 45 74 oder per E-Mail an mtr@bluemail.ch anzumelden.
Das Buch ist erhältlich unter www.somedia-buchverlag.ch oder an der Vernissage. Im Frühjahr erscheint es zudem in Italienisch. (wyf)

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