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Kleine Bühne, grosses Theater

Lange ist behauptet worden, Brechts «Antigone» sei 1948 in der Bündner Hauptstadt komplett auf Unverständnis und Desinteresse gestossen. So war es aber nicht. Die hiesigen Zeitungen besprachen die Uraufführung damals ausgiebig – an insgesamt fünf aufeinanderfolgenden Tagen.

Südostschweiz
16.09.18 - 04:30 Uhr
Kultur

Von Carsten Michels

Das Urteil über Chur als Uraufführungsort von Bertolt Brechts «Antigone» klingt vernichtend. Und es ist jahrzehntelang unwidersprochen geblieben. Der Brecht-Forschung gefiel es, das Bild einer Provinzstadt zu zeichnen, in der niemand auch nur die geringste Ahnung gehabt habe von der Theatersensation, die sich im Februar 1948 an der städtischen Bühne ereignete. Schweizer Hinterwäldler schmähen den grossen deutschen Dramatiker – eine allzu verlockende Lesart.

Noch 2008 eröffnete DRS 2 (heute Radio SRF 2 Kultur) seine Sendung «Reflexe» zum 60. Jahrestag der Churer Uraufführung mit den süffisanten Worten: «Ein paar wenige Male nur gespielt, von der lokalen Kritik zerrissen, vom Publikum boykottiert, war diese Inszenierung ein Flop – allenfalls noch ein Theaterskandal.» An diesem Satz von SRF-Redaktorin Dagmar Walser stimmt nicht viel, abgesehen von der grammatikalisch holprigen Formulierung «ein paar wenige Male nur gespielt». Nur ein paar wenige Male gespielt wurden sämtliche Produktionen der Wintersaison. Das Churer Stadttheater war nie ein En-suite-Spielbetrieb.

Mit Spannung erwartet

Wie immer ist ein Blick in die Archive hilfreich. Zeichen von Boykott oder Skandal sucht man dort vergebens. Die Stimmung in der Stadt war geprägt von Neugier, sicher auch von Skepsis. Jedenfalls erwarteten die Churer Theatergänger die moderne «Antigone des Sophokles» mit Spannung. Denn spannend hatten sie es ja gemacht: der berühmte Brecht, sein Bühnenbildner und Co-Regisseur Caspar Neher und die Schauspielerin Helene Weigel, Brechts Frau, die in der Titelrolle zu sehen sein sollte. Fünf Wochen Proben statt der sonst üblichen drei, eine Preview-Vorstellung am 6. Februar, mehrere öffentliche Proben und ein Einführungsabend im Ratssaal waren der offiziellen Uraufführung am Sonntag, 15. Februar 1948, vorausgegangen. Nun wollte man wissen, ob sich der Aufwand gelohnt hatte.

Am schnellsten berichtete die «Neue Bündner Zeitung», schon am Morgen nach der Premiere brachte sie einen «Antigone»-Text. Rezensent Walter Becherer hatte ihn zweifellos vor dem Theaterbesuch verfasst und auch so deklariert: «Der erste Teil unserer Besprechung ist eine Würdigung der Sophokleischen ‹Antigone›, der zweite Teil eine Besprechung der Brechtschen Bearbeitung.» Becherer war Deutsch- und Lateinlehrer an der Bündner Kantonsschule, für die «Neue Bündner Zeitung» schrieb er vor allem Theaterkritiken. Der Platz in der Montagsausgabe reichte nur für eine halbe Würdigung, Becherers Ausführungen über Sophokles’ Tragödie gingen in der Dienstagsausgabe also munter weiter. Immerhin kam er schon mal auf Brecht zu sprechen. Die eigentliche Kritik folgte am Mittwoch im dritten und letzten Teil.

Vorsichtige Empfehlung

Becherers Text als Verriss zu bezeichnen, ist abwegig. Er hat sich an Brecht – den er im Vorfeld offenbar als einziger Bündner Journalist interviewen konnte – sowie an dessen neuer Form des epischen Theaters gründlich abgearbeitet. Der schmucklose, von jedem Pathos befreite Stil sagte Becherer zwar «nicht restlos zu». Doch er begriff das Stück «als einen interessanten, ernst zu nehmenden Versuch, neue Wege zu gehen». Becherer kritisierte, wohl auch mit Blick auf das im zerstörten Berlin spielende Präludium, dass sich «Fremdes und Eigenes nicht genügend zu einer Einheit verbunden» hätten. Jedoch schloss er versöhnlich: «Wir empfehlen allen, sich die Gelegenheit, dieses neue Werk anzusehen, nicht entgehen zu lassen.»

Das «Bündner Tagblatt» zog am 18. und 19. Februar nach. «‹Antigone› – ein Höhepunkt der Saison» titelte Andreas Brügger. Seine Besprechung hob ungewöhnlich an. «Wir müssen es gestehen! Am Sonntag gingen wir mit recht gemischten Gefühlen ins Theater», schrieb der Redaktor und spielte damit auf kritische Stimmen im Vorfeld der Premiere an. Kantons- und Mittelschüler hatten die Proben besucht und beanstandet, dass Brecht die freie Hölderlin-Übertragung des Sophokles-Originals umgeschrieben und um weitere Teile ergänzt habe. Die Schüler waren ausserdem überzeugt, die Produktion keinesfalls im fertigen Zustand gesehen zu haben.

Stolz und Vorurteil

Redaktor Brügger griff dieses Unbehagen zwar auf, lieferte aber zugleich die Erklärung für den fehlenden Theatervorhang, für das karge Bühnenbild sowie das unpathetische Spiel des Ensembles. Die Inszenierung lasse so das Wort in seiner ganzen Tiefe wirken, erklärte Brügger. Die Komposition des Stücks sei «in Rahmen, Handlung und Darstellung ungemein geschlossen und einheitlich, eine packende wohldurchdachte Regiearbeit». Brechts «Antigone» zeige «tatsächlich neue Wege in der darstellenden Kunst und wir Churer dürfen stolz sein, dass bei uns eine solche Uraufführung stattgefunden hat».

Der «Freie Rätier», das Organ des Freisinns, schwieg vier Tage lang und publizierte seine zweiteilige Rezension erst am Donnerstag und Freitag. Warum die Verzögerung? Das hat der Autor und Theaterwissenschaftler Werner Wüthrich herausgefunden: Weder Chefredaktor Andrea Engi noch Ressortleiter Siffredo Spadini waren an die Uraufführung gegangen. Der linke Künstler Brecht behagte ihnen politisch nicht. Sie beauftragten Willy Padrutt mit der Premierenkritik. Der talentierte Kantonsschüler versorgte das Blatt gelegentlich mit Berichten, in erster Linie über Theateraufführungen. Dabei teilten sich Padrutt und Spadini dank gleicher Buchstaben im Nachnamen dasselbe Autorenkürzel. Der Maturand hatte sich sowohl mit Sophokles’ Tragödie als auch mit Brechts früheren Arbeiten intensiv beschäftigt. Er besuchte Proben und Premiere – und war zunehmend beeindruckt von Brechts Arbeit.

«Mit dem, was sie am nächsten Tag in Padrutts Rezensionsentwurf lasen, hatte die Verantwortlichen des ‹Freien Rätiers› nicht gerechnet», vermutet Theaterwissenschaftler Wüthrich, «nämlich dass dieser 19-jährige Mittelschüler möglicherweise die Absichten der bekannten Theatermacher begreifen könnte.» Jahrzehnte später hat ihm der Hochbetagte erzählt, dass Chefredaktor Engi und Redaktor Spadini die Publikation damals zurückgestellt und eine «entschärfte Version» verlangt hätten. Seine grundsätzliche Auseinandersetzung sei in der gedruckten Fassung weggefallen, bedauerte Padrutt im Nachhinein. Die Rezension habe sich praktisch nur auf die Inhaltsangabe und das Spiel der Akteure beschränkt – und so der Zeitung erlaubt, «sich diplomatisch aus der Affäre zu ziehen».

Froh über «diese Sache»

Brecht selber wusste, was er dem Publikum zumutete. Seine «durchrationalisierte ‹Antigone›», wie er sie nannte, war für alle Beteiligten Neuland. «Das Modell, in einundeinhalb Dutzend Proben am Stadttheater Chur hergestellt, ist von vornherein als unfertig zu betrachten», resümierte er. Ganz falsch lagen die Kantonsschüler also nicht. Brecht aber sah sein Experiment als gelungen an. Das Publikum beim Preview am 6. Februar «überraschte uns und sich selber durch richtigen Applaus», schrieb Brecht an Co-Regisseur Neher, der bereits wieder in Zürich zu tun hatte. «Ich bin sehr froh, dass wir diese Sache machen konnten.»

Die Uraufführung war praktisch ausverkauft, auch dank der auswärtigen Gäste. Die Vorstellung am 20. Februar blieb schlecht besucht. Das Interesse der Churer schwand, vielleicht wuchs auch die Scheu vor dem Neuen. Die letzte Aufführung entfiel – wegen Erkrankung im Personal, wie das Stadttheater mitteilen liess. Die Begründung könnte stimmen. Denn die wochenlange tägliche Probenzeit neben Abendeinsätzen in anderen Produktionen hatte den Grossteil des Ensembles schlicht erschöpft.

War das Churer Experiment «ein Flop»? Brecht selber hätte das wohl verneint. «Er hatte keine Comeback-Eile», notierte der Schriftsteller Max Frisch im März 1948 nach dem Besuch des Gastspiels in Zürich. «Ob Chur oder Zürich, Brecht probierte für Berlin.»

Die Artikelserie «Kleine Bühne, grosses Theater» erinnert an die Churer «Antigone»-Inszenierung von Bertolt Brecht im Jahr 1948. Mit dem sechsten Teil endet sie.

Theater Chur eröffnet neue Saison mit Karges «Antigone»
Zum 70-Jahr-Jubiläum der Uraufführung in Chur eröffnet das Theater Chur am kommenden Mittwoch, 19. September, um 19 Uhr die neue Spielzeit mit Bertolt Brechts «Antigone des Sophokles». Gezeigt wird eine Inszenierung vom Staatstheater Wiesbaden. Regie führt Manfred Karge, der lange Jahre unter der Intendanz von Helene Weigel am Berliner Ensemble tätig war. Das einmalige Gastspiel ist Teil des diesjährigen Festivals «Brecht!/BB18». Vor der Aufführung findet um 18 Uhr ein Podiums- gespräch mit Regisseur Karge statt.

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