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«Ich habe ein neues Leben bekommen»

Heute lebt Urs Bachofen in Schwändi und Australien. Bei der Lawine vom 10. Februar 1961 in Lenzerheide war er der Einzige der elf komplett Verschütteten, der gerettet werden konnte. Drei Stunden lag er im Schnee begraben.

Südostschweiz
06.02.11 - 01:00 Uhr
Ereignisse

Aufgezeichnet von Irène Hunold Straub

Es hatte die ganze Woche sehr viel geschneit. Die ewigen Spiele in der Unterkunft hingen uns langsam zum Hals heraus. Deshalb waren wir eigentlich ganz froh, als am Unglückstag der Entscheid fiel, endlich auf eine Skiwanderung zu gehen. Also zogen wir los, natürlich mit den Lehrern und Leitern.Die Behörden hatten eine Warnung herausgegeben. Man müsse sehr vorsichtig sein, die Lawinengefahr sei sehr hoch. Beim Aufstieg fielen mir immer wieder Geräusche auf, die ich nicht kannte. Es klang wie «wumm». Manchmal sind wir dabei etwas zurückgerutscht. Heute weiss ich natürlich, dass dies auf eine sehr hohe Gefahrenstufe deutet.

Wir winkten uns gegenseitig zu

Nach einer Rast machten wir uns für die Abfahrt bereit. Nicht alle waren geübte Skifahrer. Zu den weniger Erfahrenen gehörte auch ich. Wir mussten oben in einen Hang quer einfahren, drehen und dann wieder aus dem Hang hinausfahren. Den Ungeübten wurde empfohlen, eine Spitzkehre zu machen. Weil das gar nicht so einfach war, bildete sich beim Wendepunkt ein Stau. Gerade als ich an diesem Punkt ankam, gab es einen gewaltigen Knall und einen heftigen Ruck.Wir sassen alle plötzlich im Schnee und der ganze Hang setzte sich in Bewegung, soweit man sehen konnte. Das «Aberiite» auf dem Schnee fanden wir ganz lustig. Der Gefahr, in der wir uns befanden, waren wir uns gar nicht bewusst. Wir winkten uns noch gegenseitig zu. Der Spass hörte allerdings schnell auf. Was zuerst wie eine Fläche aussah, die den Hang hinunterrutschte, entwickelte sich schnell zu Wellen, die immer bedrohlichere Ausmasse annahmen.

Aufschlag kam mit voller Wucht

Es gelang mir, meine Füsse mit den Skiern in die Fallrichtung zu drehen, um wenigstens zu sehen, was auf mich zukam. Ich sah die anderen Kameraden mit den riesigen Schneewellen kämpfen und Bäume, die in unheimlichem Tempo an mir vorbeiflitzten und sich rückwärts bogen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine der Tannen auch mich erwischte.Der Aufschlag kam mit voller Wucht. Er war so stark, dass ich sofort das Bewusstsein verlor. Die Kräfte, die da wirken, sind unvorstellbar. Von meinem Ski, den man später fand, brach ein rund zehn Zentimeter langes Stück samt den Stahlkanten ab. Den Rucksack und die Schuhe hat man nie mehr gefunden.Vielleicht war die Tanne meine Rettung. Mit ihr zusammen bin ich tief in einem Talkessel eingegraben worden. Durch die Hohlräume, die sich nicht mit Schnee gefüllt hatten, wurde ich wenigstens mit etwas Sauerstoff versorgt. Sonst hätte ich sicher nicht überlebt. Ich erwachte aus der Bewusstlosigkeit, weil mein ganzer Körper schmerzte. Und die Schmerzen nahmen zu.

Wie in eine Passform gegossen

Ich lag wie in eine Passform gegossen im Schnee und konnte nicht feststellen, ob ich auf dem Bauch, auf der Seite oder auf dem Rücken lag. Auch dass ich mich einige Meter tief unter der Oberfläche befand, war mir nicht klar. Es war sehr kalt und unmöglich, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Der Schnee war hart wie Beton. Und noch schlimmer: Diese «Passform» rund um mich herum wurde immer enger. Der Druck auf den Körper nahm zu.Erneut verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, hatte sich wenigstens der Schnee beruhigt. Er bewegte sich nicht mehr. Es war absolut dunkel und im Gegensatz zum riesigen Lärm davor unheimlich still.

Ja, man gerät in Panik

Ich spürte, dass vor meinem Gesicht der Schnee durch die Atemluft ein wenig geschmolzen war. Aber das Atmen war sehr mühsam, da ich den Brustkorb nicht bewegen konnte. Ja, man gerät in Panik. Man versucht zu schreien, was aber nicht richtig geht, weil man zu wenig Luft hat. Man versucht, sich zu beruhigen, weil man ja weiss, dass der Sauerstoff sehr knapp ist und man sparsam damit umgehen muss. Man versucht, sich gegen den Schnee zu stemmen in der Hoffnung, dass die Schneedecke vielleicht nachgeben könnte. Doch natürlich nützt alles nichts. Man ist gefangen, und man kann nur hoffen, dass man rechtzeitig gefunden wird. Dann ist es gut wenn man wieder eine Weile bewusslos wird. Man hat absolut kein Zeitgefühl mehr.Der nächste Wachzustand war dann ganz anders. Ich spürte den Körper nicht mehr, Schmerz und Kälte waren weg. Ich fühlte mich wie schwebend in Watte eingebettet und bin langsam und ruhig eingeschlafen. Von da an weiss ich nichts mehr, bis ich beim Arzt in der Lenzerheide wieder aufgewacht bin.

Alle sprachen von einem Wunder

Über meine Rettung weiss ich nur, was man mir erzählt hat. Ein Lawinenhund hat mich gefunden. Ich muss tief im Schnee und ungewöhnlich lange eingegraben gewesen sein. Alle sprachen von einem Wunder, mich noch lebend gefunden zu haben. Ich sei stark unterkühlt gewesen und hätte eine gefährliche Kohlendioxyd-vergiftung gehabt. Ein Wunder war auch, dass ich nichts gebrochen hatte, sondern nur an den Füssen und am Rücken Verstauchungen und Prellungen davongetragen hatte. Die Retter brachten mich mit dem Helikopter nur bis ins Dorf und nicht in das Spital Chur. Sie hatten befürchetet, dass ich den Weg dorthin nicht überlebe. Ich hatte unheimlich viel Glück.

«Groteske Informationspolitik»

von Urs Bachofen

«Zurückblickend muss ich sagen, dass ich eine sehr eingeschränkte Sicht auf das Ereignis habe. Die damalige Informationspolitik war gelinde gesagt grotesk restriktiv. Ich frage mich, wen die Verantwortlichen eigentlich schützen wollten? Den vielen betroffenen Familien aber haben sie ganz sicher keinen guten Dienst erwiesen, indem sie diese einfach in der Ungewissheit hängen liessen.Bis zur Beerdigung der Schulkameraden, bei der ich wegen der Verletzungen nicht dabei sein konnte, hatte ich keine Ahnung davon, wer betroffen war und welches Ausmass das Unglück angenommen hatte. Es war für mich ein grosser Schock, alles über die Medien zu erfahren. Nach meiner Rettung lag ich bei einem Arzt in der Lenzerheide. Dort kümmerte man sich mit viel Sorgfalt und Fürsorge um mich. Doch auf meine Fragen bekam ich nur ausweichende Antworten. So hatte ich lange den Eindruck, dass ich der Einzige gewesen war, den man aus der Lawine herausholen musste und dass allen anderen nichts geschehen sei.Aber ich fragte mich immer wieder, wie das möglich sein könne. Ich hatte meine Kameraden doch gesehen; wie sie vor mir auf dem Schneebrett waren, kurz bevor ich durch die Luft flog und unter die Schneemassen gewühlt wurde. Das sind Bilder, die man nie mehr vergisst.Doch es gibt auch Löcher in meinen Erinnerungen. Ich lebte gemäss meinen Eltern eine lange Zeit wie in einer Zwischenwelt und hatte ziemliche Mühe damit, wieder in ein normales Leben zurückzufinden.»

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