×

Warten, Warten, Warten, Sitzen, «Action», «Cut»

Im Kinosaal flimmern wunderbar geschnittene, ausgeleuchtete, komponierte Bilder über die Leinwand. Wie die Arbeit an einem Film-Set aussieht, bis diese Bilder im Kasten sind, zeigt ein Tag als Statist bei einer internationalen Produktion.

29.07.17 - 05:00 Uhr
Stars & Sternli

16 Uhr, Bahnhofplatz Chur

Eine kleine Gruppe Menschen versammelt sich am Churer Bahnhof und wartet. Was sie verbindet: Sie sind entweder bereits ansehnlichst in Schale geworfen oder tragen diese offensichtlich in Taschen und Kleidersäcken mit sich. Das Ziel dieser Menschen ist das «Hotel Waldhaus» in Sils im Engadin. Dort werden sie als Statisten in einer kanadischen Filmproduktion mitwirken. Details dazu später. Der Car, der die Gruppe abholt, ist überpünktlich – es wird das letzte Mal an diesem Tag sein, dass etwas pünktlich passiert.

Der Auftakt zu einem langen Tag: die Fahrt von Chur nach Sils i.E.
Der Auftakt zu einem langen Tag: die Fahrt von Chur nach Sils i.E.
OLIVER FISCHER

16.05 bis 18.30 Uhr, Chur – Hotel Waldhaus Sils i.E.

Der Car böte Platz für 30 bis 40 Personen – es sitzen gerade einmal etwas mehr als ein Dutzend darin. Zwei von ihnen sind Emanuel und Jessica, beide jung, filmbegeistert und neugierig, mehr von ihnen später. Einige plaudern, die meisten schweigen, hören Musik und schauen aus dem Fenster, wo Churer Rheintal, Domleschg, Surses, der Julierpass mit dem Turm der neuesten Origen-Produktion und schliesslich der Silvaplaner See vorbeiziehen.

Statistin 1: Jessica.
Statistin 1: Jessica.
OLIVER FISCHER
Jessica erklärt, warum sie das stundenlange Warten am Set auf sich genommen hat.
Statist 2: Emanuel
Statist 2: Emanuel
OLIVER FISCHER
Ein echter Trekkie wie Emanuel lässt sich die Chance, Captain Jean-Luc Picard zu sehen nicht entgehen.

18.30 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus Sunny Corner

Vor dem altehrwürdigen «Hotel Waldhaus» werden die Neuankömmlinge in Empfang genommen und eingewiesen. Im Raum «Sunny Corner» stossen die Männer und Frauen zu zahlreichen weiteren künftigen Statisten. Gemeinsam werden sie an diesem Abend das Publikum bei einem Piano-Konzert spielen. Von einem der Regieassistenten gibt's erste Anweisungen. Die Kostümbildnerin des Films schaut sich die Outfits an, die die Statisten selbst mitgebracht haben. Passt die Farbe des Kleides, braucht es zu diesem Anzug noch eine Krawatte oder eine Fliege, harmonieren die Abendgarderoben eines Paares?

19 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus Mitarbeiter Kantine

Die Statisten werden verpflegt, in kleinen bunt zusammen gewürfelten Gruppen werden die Leute von jemanden, der irgendetwas mit der Film-Produktion zu tun hat, hinter die Kulissen des «Hotels Waldhaus» in die Treppenhäuser, Gänge und Kantine der Angestellten geführt, wo es Gerstensuppe und Brot gibt. Anschliessend geht es an die Hauptbeschäftigung dieses Abends: Warten!

Ein währschaftes Znacht für die Statisten: Bündner Gerstensuppe mit viel(!) Wienerli.
Ein währschaftes Znacht für die Statisten: Bündner Gerstensuppe mit viel(!) Wienerli.
OLIVER FISCHER

19.45 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus Foyer, Salon, Sunny Corner

Während im grossen Salon dutzende Licht- und Ton- und Kamera-Techniker, Bühnenbildner und vermutlich noch zig weitere Produktionsmitarbeiter, deren Job-Bezeichnung man irgendwann in Kleinstschrift im Abspann des fertigen Films lesen können wird, das Set herrichten, werden die Statisten über den Ablauf des Drehs informiert. Die Kostümbildnerin schlängelt sich mit mehreren Assistentinnen durch die Menge, bleibt hier und da stehen, nimmt verschiedene Paare in Augenschein und tuschelt mit ihrer Gefolgschaft. Diese sprechen kurz mit den Auserwählten: ihnen wird das Privileg zu Teil, während den Aufnahmen in der Nähe von Sir Patrick Stewart, dem Hauptdarsteller des Films, sitzen zu dürfen. Und ja, Patrick Stewart, das ist Captain Jean-Luc Picard vom Raumschiff Enterprise – oder Professor Charles Xavier, Anführer der X-Men.

Dabei heisst es auch, die Statisten würden so ab etwa 20.15 Uhr im Konzertsaal platziert. Warten.

20.30 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus Sunny Corner

Um 20.30 folgt die Information, dass es Verzögerungen gebe aber in 15 bis 20 Minuten gehe es los. Warten.

21.15 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus, Film-Set «The Gift»

Die Statisten werden hingesetzt. Drei hierhin, vier dorthin, ein Paar auf diese zwei Plätze bitte – zwischendurch platziert die Kostümbildnerin mit ihren Assistentinnen immer mal wieder jemanden um. Visagisten pudern hier eine Stirn, glätten dort eine Locke oder klemmen eine Haarsträhne hinter ein Ohr. Derweil wuseln (mindestens) drei Dutzend weitere äusserst beschäftigte Menschen am Set umher, tragen eine Lampe hierhin, platzieren Stühle um, rollen Teppiche auf, polieren den Flügel, prüfen Intensität und Wärme des Lichts und machen wohl noch tausend weitere Dinge, bei denen man, selbst wenn man direkt daneben steht, nicht versteht worum es geht.

«Hier wird ein Film gedreht» - was so simpel klingt, ist ein gewaltiger logistischer Aufwand!
«Hier wird ein Film gedreht» - was so simpel klingt, ist ein gewaltiger logistischer Aufwand!
OLIVER FISCHER

21.30 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus, Film-Set «The Gift»

Der Regisseur gibt Anweisungen: «Stand-by», «Sound rolls», «3, 2, 1, Action» – rund fünf Viertelstunden später als geplant beginnt der Dreh. Und für die Statisten heisst das im Prinzip nichts anderes als bisher: warten. Denn als Konzertpublikum sitzt man da, bewegt sich nicht, schaut immer an den gleichen Ort und achtet peinlichst genau darauf, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, nicht zu niesen oder gar das Gesicht zu verziehen. Und ganz wichtig: Niemals, wirklich absolut niemals (!) direkt in die Kamera schauen!

Es empfiehlt sich ausserdem eine bequeme, aufrechte Sitzposition zu wählen, die man sich auch gut merken kann und die einem auch nach zweieinhalb Stunden keine infernalischen Schmerzen zufügt – denn Pausen hin oder her, dieser Dreh besteht für die Statisten nur daraus: sitzen und warten.

Ach ja, die Szene ist zwar ein Piano-Konzert. Ein Piano-Konzert bekommt man aber nicht wirklich zu hören. Denn auf das «3, 2, 1, Action» folgt zwangsläufig fünf, zehn oder 40 Sekunden später ein lautes «Cut!». So bekommt man den Anfang des Stücks locker 15 mal zu hören, verschiedene Mittelteile genauso oft, aber ob der Pianist das Stück tatsächlich einmal zu Ende gespielt hat, dürfte sich der Kenntnis der allermeisten Statisten entziehen.

23.30 Uhr, Sils i.E. Hotel Waldhaus, Film-Set «The Gift»

«Thank you, you were great, excellent work» – der Regisseur bedankt sich bei den rund 75 Statisten fürs Stillsitzen, Ausharren, Warten. Das wars also schon, rund zwei Stunden hat der ganze Zauber im grossen Salon des «Hotels Waldhaus» in Sils gedauert – Stillsitzen, Pause, Stillsitzen, Pause, Fertig. Aber immerhin: irgendwann einmal, nächstes Jahr vielleicht, können die Statisten ins Kino pilgern, sich den fertigen Film anschauen und in der Schlussszene gebannt ins Publikum des Konzerts schauen und sich selbst dort suchen.

Drehschluss für die Statisten. Die Filmcrew drehte noch viel länger in die Nacht hinein weiter.
Drehschluss für die Statisten. Die Filmcrew drehte noch viel länger in die Nacht hinein weiter.
OLIVER FISCHER

02.15 Uhr, Chur Bahnhofplatz

Ein langer Tag ist längst in den neuen übergegangen, am Churer Bahnhofplatz herrscht gähnende Leere – lediglich auf einer Bank sitzen drei Leute und reden. Zwei von ihnen sind Jessica und Emanuel, für Sie ist in den vergangenen Stunden so etwas wie ein Traum wahr geworden. Sie waren hautnah bei der Produktion eines grossen, internationalen Films dabei. Besonders stolz ist Emanuel auf sein Autogramm von Sir Patrick Stewart, oder besser von Captain Jean-Luc Picard. Und Jessica fand die ganze Atmosphäre am Set - trotz allen Wartens - irgendwie magisch.

Emanuels Fazit: Ein kurzes Gespräch, ein Händedruck und ein Autogramm von Sir Patrick Stewart machen alles Warten locker wett.
Jessicas Fazit: Bingt man die Leidenschaft fürs Filmemachen mit, hat selbst das stundenlange Warten am Set etwas Magisches.
Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Stars & Sternli MEHR