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Vom Nutzen des Teufels

Die gegenseitigen Schuldzuweisungen in Sachen Corona nehmen immer groteskere Formen an. Die Lektüre all der Ergüsse zum Thema «Spaltung der Gesellschaft» provoziert geradezu zum skurrilen Gedankenexperiment, wie es wäre, wenn man zur Entspannung der Situation auf Denkfiguren längst vergangener Zeiten zurückgriffe wie jene, die Pfarrer Chiampell besonders schätzte, sich des Teufels bedient – für ihn kein imaginäres Phantom, sondern Realität – und sich durch eine beachtliche psychologische Raffinesse auszeichnet. Dieser überaus originelle und streitbare Engadiner aus dem 16. Jahrhundert verzichtete nämlich – fast wie ein moderner Moderator – bei der Darstellung so und so vieler Konflikte auf eine Schuldzuweisung an eine der beiden Streitparteien. Mit Vorliebe wies er die Schuld dem «Spalter» zu, an dem sich als Sündenbock in der Funktion eines Blitzableiters gegenseitige Aggressionen entladen konnten. Bei kaum jemand anderem wie bei Chiampell steht bei der Verwendung der Vokabel «diabolus» nicht die schulmässige Bedeutung «Teufel» im Vordergrund, sondern deren etymologischer Sinn des «Entzweiers».
Eines der instruktivsten Beispiele ist seine Begründung für die Bedrohung Genfs durch den sog. Löffelbund: Als 1530 niemand an einen Konflikt dachte, da machte sich – wie er schreibt – «der Teufel» an die Arbeit, «voller Freude, Streit erregen zu können». Von daher erklärt sich auch Chiampells Überschwänglichkeit in seiner Wortwahl, wenn es wieder einmal galt, eine beigelegte Engadiner Familienfehde zu feiern. Vor allem in einem Fall lassen seine Worte das Bild einer clanübergreifenden Umarmungsorgie vor dem inneren Auge entstehen. Was natürlich nichts als angemessen ist, wenn jede Versöhnung per definitionem einen Sieg über den Teufel bedeutet! Und sollte der gute Ausgang auf sich warten lassen: Mit einem Stakkato von Argumenten beweist er, dass Gott sogar den Teufel fest im Griff hat und von daher letztlich – Chiampells absolutes Lieblingszitat aus Augustin – «vom Bösen einen guten Gebrauch machend, etwas Gutes daraus hervorlockt und das Böse zum Guten wendet».

Gian Andrea Caduff-Schlatter
01.10.21 - 11:06 Uhr
Leserbrief
Ort:
Zizers
Zum Artikel:
Diverses zum Thema "Ein Virus als Spaltpilz".
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