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«Diese Krise ist eine grosse Chance»

Ein grossangelegtes Förderprojekt des Kantons geht in die nächste Runde – Graubünden Viva wird es auch nächstes Jahr noch geben. Hinter dem Projekt stehen ein Verein und eine Aktiengesellschaft, und bei beiden Institutionen sitzt Walter Anderau im Chefsessel. Ein Interview über Chancen in der Krise.

04.05.20 - 04:30 Uhr
Wirtschaft
Das Projekt Graubünden Viva will vor allem der Abwanderung in den Randregionen entgegenwirken.
Das Projekt Graubünden Viva will vor allem der Abwanderung in den Randregionen entgegenwirken.
PRESSEBILD

Der 65-jährige Historiker Walter Anderau und sein kleines Team verfolgen immer noch das gleiche Ziel, das sich die Trägerschaft von Graubünden Viva schon bei der Gründung auf die Fahne geschrieben hat: die «Stärkung des Standorts Graubünden über das Thema Ernährung und Kulinarik». 2016 wurde der Verein Graubünden Viva gegründet. Fast fünf Millionen Franken gab es später vom Kanton und Bund.

Jetzt, vier Jahre später und viele Partner und Mitglieder mehr, steht im Herbst der krönende Abschluss der ersten Projektetappe an – oder wohl eher auf der Kippe. Wie das geplante Winzerfest in der Herrschaft durchgeführt werden kann, ist noch nicht klar. Warum die Coronakrise für Bündner Betriebe trotzdem eine grosse Chance ist, erzählt Walter Anderau im Interview.

Herr Anderau, wie geht es Ihren Mitgliedern mit der aktuellen Situation?

Diese Krise führt uns vor Augen, wie wichtig die Themen Regionalität und Nachhaltigkeit sind. Wir wollen ja «brutal lokal» sein und das ist genau das, was jetzt gefordert ist. Das beginnt mit Hofläden von Bauern und endet bei der Lachszucht in Lostallo zum Beispiel. Die verkaufen jetzt ihren Fisch über Grossverteiler, die ihrerseits Mühe haben, den Fisch aus dem Ausland zu beziehen. Es gehen jeden Tag Fische in Lostallo auf die Post und werden den Kunden zugestellt. Für Hoteliers und Restaurants ist die Situation natürlich bedeutend schwieriger.

Ist die Krise eine Chance für regionale Produzenten?

Ja, sie ist eine grosse Chance. Was wir gepredigt haben, ist jetzt eingetroffen. Nicht die Krankheit natürlich, sondern dass diese Regionalität in der Versorgung ausserordentlich wichtig ist. Die Qualität soll hoch und die logistischen Wege kurz sein. Ein Gegenpol zu dieser übermässigen Globalisierung eigentlich, die einem einfach auch zeigt, dass man sehr abhängig ist. Ich will nicht, dass wir uns abschotten, aber eine gesunde Balance ist wesentlich, finde ich. Die Bündner Betriebe wissen gar nicht, auf was für einem ungeschliffenen Diamanten sie sitzen. Wir haben in Graubünden ein kulinarisches und önologisches Paradies.

Ist das also das Ziel der nächsten Etappe des Projekts? Bündner Kulinarik bekannter machen?

Wir wollen in diese Richtung weitergehen. Es gibt eigentlich zwei Aspekte, den romantischen und den strategischen. Die Leute fühlen sich angezogen durch die Art und Weise, wie wir daherkommen, als heile Welt sozusagen. Die Städter und die Touristen haben die Illusion, dass das die Realität ist. Das ist aber nur vordergründig so. Der hintergründige Teil ist für den Kanton Graubünden unglaublich wichtig. Es muss ein Beitrag geleistet werden, um der Abwanderung in den Randregionen entgegenzuwirken. Und das kann man nur, indem man Wertschöpfung schafft.

Auf Graubünden Viva soll Graubünden Viva 2.0 folgen. Wie konkret ist das Nachfolgeprojekt schon?

Die Grundlagen für die konkrete Planung für 2021 sollten im Herbst da sein. Die Organisation für die Finanzbeschaffung müssen wir überdenken, das wird im jetzigen Umfeld mit einer drohenden Wirtschaftskrise nicht einfacher.

Der Churer Wochenmarkt startet am 1. Mai in einem etwas anderen Format. Die lokalen Produzenten und Produzentinnen freuen sich über euren Besuch. 🌸

Posted by graubündenVIVA on Sunday, April 26, 2020

Was müssen Sie im nächsten Schritt besser machen?

Der Grundtenor stimmt, da sind sich alle Partner einig. Es ist aber wichtig, dass wir langfristig denken. Das ist eine zusätzliche Aufgabe für uns, vor allem für den Bereich der Kulinarik. Wie kann man Essen anders machen? Der Trend geht zu pflanzlich-basierter Ernährung. Es gibt zum Beispiel ein Start-up, das eine andere Art von Bündnerfleisch aus Randen entwickelt. Hier sehe ich künftig die Aufgabe, den Partnern Denkanstösse zu geben und gemeinsam mit ihnen Nahrungsmitteltrends einzubringen, die dem Anspruch nach Hochgenuss und Regionalität gerecht werden.

Warum ist es in den vergangenen Jahren noch nicht ausreichend gelungen, die Partner so zu positionieren, dass sie an dieser Wertschöpfung teilhaben oder sie generieren können?

Die Teilnahme an diesem Projekt bedarf einer gewissen Verhaltensänderung. Und dafür braucht es Zeit, das geht nicht von heute auf morgen. Es braucht viel Vertrauen von beiden Seiten. Und dieses Vertrauen kann man nicht auf Befehl aufbauen. Einzelne nehmen das alles schon sehr ernst und sind sehr weit in ihrer Entwicklung. Andere sehen das Potenzial erst jetzt langsam und realisieren, dass das der Weg in die Zukunft sein kann – entlang der Wertschöpfungskette vom Produzenten, über den Verarbeiter bis zur den Direktvermarktern.

Welche Funktion hat denn der Verein gegenüber seinen Mitgliedern und Partnern?

Die meisten Leute machen es in ihrer Routine so, wie sie es immer schon gemacht haben. Sie haben im Tagesgeschäft zu wenig Zeit und vielleicht auch nicht die richtigen Kontakte, um das zu ändern. Hier ist ein Ideengeber gefordert. Wir kennen die Bedürfnisse, wir können sie vernetzen. Ich sage manchmal, dass wir mit dem «Ölstitzli» umherrennen und dort, wo es knorzt im Getriebe, ein bisschen Öl hineingeben. Das ist unsere Rolle, da haben wir schon noch eine Verantwortung. Aber wir machen keine Qualitätskontrolle bei den Betrieben. Wir müssen einfach schauen, dass alle am gleichen Strick ziehen – und in die gleiche Richtung am besten auch noch.

Woran misst Graubünden Viva den Erfolg?

Es geht um Reputation, es geht um Alleinstellungsmerkmale. Wie können wir uns als Kanton Graubünden vom Wallis oder vom Tessin unterscheiden? Es ist relativ tricky, das zu messen. Ein guter Massstab ist natürlich, wenn die Hauptpartner weiterhin bereit sind, sich finanziell zu engagieren. Das misst, für schweizerische Gepflogenheiten, den Stellenwert des Projekts.

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