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«Chur ist die grosse Ausnahme»

Die Churer Tourismusdirektorin Leonie Liesch erklärt, wieso die Stadt Chur nicht vom Reiseboom im Inland profitiert.

Olivier
Berger
25.07.20 - 04:30 Uhr
Tourismus
Leonie Liesch erklärt: «Wenn Schweizer im eigenen Land Ferien machen, zieht es sie eher in die Berge.»
Leonie Liesch erklärt: «Wenn Schweizer im eigenen Land Ferien machen, zieht es sie eher in die Berge.»
OLIVIA AEBLI-ITEM

Der Churer Tourismus leidet unter den Folgen der Covid-19-Pandemie: Die Logiernächte sind in einzelnen Monaten um bis zu 90 Prozent eingebrochen. Leonie Liesch, Direktorin von Chur Tourismus und Präsidentin des Verbands Schweizer Tourismus Manager, durchlebt herausfordernde Zeiten.

Frau Liesch, die Sommerferien laufen, Graubünden gehört zu den grossen Profiteuren. Das müssten Sie als Tourismusdirektorin der Kantonshauptstadt strahlen.

Leonie Liesch: Natürlich freut es mich, dass es dem Bündner Tourismus gut geht. Allerdings ist Chur dabei die grosse Ausnahme. Auch wenn der Juli etwas stärker ausfallen dürfte – in den vergangenen Monaten hatten unsere Hotels Logiernächterückgänge von zwischen 67 und 90 Prozent zu verzeichnen.

Das erstaunt doch einigermassen. Wie erklären Sie sich diesen Rückgang?

Sie können den Tourismus in Chur nicht mit jenem in den Bergdestinationen vergleichen. Normalerweise beherbergt die Churer Hotellerie 47 Prozent ausländische Gäste. Und die Hälfte aller Gäste in den Stadthotels sind Geschäftsreisende. Diese Gäste bleiben aus. Dazu kommt noch, dass es sich bei unseren Freizeitgästen oft um Bahn- oder um Gruppenreisende handelt, die durchschnittlich ein eher höheres Alter haben. Diese Altersgruppe reist momentan wegen der Verunsicherung im Zusammenhang mit Covid-19 weniger. All das summiert sich.

Ferien in Graubünden liegen offenbar im Trend. Wieso reisen die Feriengäste nicht nach Chur?

Wenn die Schweizerinnen und Schweizer im eigenen Land Ferien machen, zieht es sie eher in die Berge als in die Städte, Chur steht ja mit dem Problem nicht alleine da. In den Sommerferien sind ausserdem vor allem viele Familien unterwegs. Auch mit Kindern geht man eher in die Berge als in eine Stadt. Das bekommen wir zu spüren.

Konjunkturforscher gehen davon aus, dass in der Hotellerie ein grosser Teil der Rückgänge bei den ausländischen Gästen durch Schweizerinnen und Schweizer wettgemacht werden kann.

Das ist richtig. Die Experten haben aber auch gesagt, dass das für die Stadthotellerie nur bedingt zutrifft. Bisher hatten wir in Chur, was wir scherzhaft die Zauberformel genannt haben: einen Mix aus Geschäfts- und Freizeitreisenden. Bisher war es so, dass, wann immer eine Gruppe ausgeblieben ist, die andere dafür vermehrt nach Chur gekommen ist. Bloss ist das in diesem Sommer eben nicht mehr der Fall. Mit Schweizer Gästen allein können wir das nicht auffangen.

Zumindest gefühlt sind derzeit in Chur aber mehr Gäste unterwegs als sonst im Sommer.

Das ist nicht nur ein Gefühl. Wir haben schon Besucherinnen und Besucher. Aber das sind meist Tagesgäste, die einen Ausflug aus einer anderen Region der Schweiz oder aus einem anderen Ferienort im Kanton nach Chur machen. Auch die Museen bestätigen beispielsweise, dass es gut läuft.

Das ist doch erfreulich, oder?

Natürlich ist das erfreulich. Es hilft uns auch bei den touristischen Angeboten, und sicher hilft es teilweise auch der Gastronomie. Aber man darf nicht vergessen, dass die Hotellerie ein wichtiger Stützpfeiler des Tourismus ist. Und dort sieht es halt ganz anders aus.

Und der Tagestourismus kann das insgesamt nicht wettmachen?

Auch da gibt es einen Rückgang, wenn er auch weniger dramatisch ist als bei der Hotellerie. Ein guter Indikator sind die Stadtführungen, welche Chur Tourismus durchführt. Normalerweise finden jährlich rund 1000 solcher Führungen statt. Ich gehe davon aus, dass es im laufenden Jahr noch zwischen 600 und 700 sein werden. Das ist ein Rückgang von zwischen 30 und 40 Prozent. Auch das hat damit zu tun, dass die Gruppenreisen weitgehend ausfallen. Offen gesagt sind die Gruppenbuchungen die finanzielle Milchkuh unter den Führungen. Hier gibt es weniger Anfragen, und wenn, dann teilweise für deutlich kleinere Gruppen.

Aber das Interesse ist weiterhin vorhanden?

Ja, schon noch. Es gab auch während des Lockdowns Anfragen. Sogar da haben eine oder zwei Stadtführungen stattgefunden. Natürlich mit jeweils maximal vier Personen. Das war dann schon sehr exklusiv. Auch jetzt kommen noch Buchungen herein, und ich sage Ihnen: Ich habe riesige Freude an jeder Anfrage.

Eine Möglichkeit wäre doch, den Schweizerinnen und Schweizern eine Fahrt mit dem Bernina- oder dem Glacier-Express schmackhaft zu machen – mit Chur als Ausgangspunkt. Immerhin ist das Bedürfnis so gross wie selten, das eigene Land zu entdecken.

Das machen wir auch. Allerdings gibt es auch bei den Bahnreisen einen Einbruch – und das nicht nur bei den Reisegruppen aus dem Ausland. Hand aufs Herz: Wenn Sie mit dem Glacier-Express von Chur nach Zermatt fahren, sind Sie fünf Stunden lang im Zug unterwegs – mit Maske. Ich verstehe die Maskenpflicht und begrüsse sie auch, weil sie verhindert, dass die Wirtschaft wieder heruntergefahren werden muss. Aber jedermanns Sache ist es nicht, fünf Stunden lang mit Schutzmaske im Zug zu sitzen.

Haben Sie das Gefühl, dass sich potenzielle Gäste im Hinblick auf Covid-19 in einer Stadt weniger sicher fühlen als in den Bergen?

Das ist sicher auch ein Faktor. Städte vermitteln die Vorstellung von Enge, davon, dass man den Abstand zu den Mitmenschen nicht einhalten kann. Das stimmt allerdings nur bedingt. Natürlich haben Sie auf einer Wanderung kein Problem damit, anderen Menschen zu nahe zu kommen. Spätestens in der Berghütte oder am touristischen Hotspot kann es gerade diesen Sommer aber ganz anders aussehen.

Also bleibt derzeit das höchste der Gefühle, wenn wenigstens die Gäste in den anderen Bündner Regionen einen Ausflug nach Chur einplanen– auch wenn das der Hotellerie nur bedingt hilft?

Das sagen wir in der Kommunikation ja ohnehin schon lange: Dass kein Besuch in Graubünden wirklich ein komplettes Erlebnis ist, ohne dass man Chur gesehen hat. Das hat mit Corona nichts zu tun. Was wir versuchen, ist, auch den umgekehrten Effekt zu erreichen. Chur ist ein idealer Ausgangspunkt, um den Kanton zu erleben. Wir haben auch entsprechende Berg-und-Bahn-Erlebnisse im Angebot, die auch im Sommer funktionieren. Bloss ziehen diese im Moment nicht, wie wir das gerne hätten.

Welche Rolle spielt eigentlich für Chur, dass alle Grossanlässe abgesagt wurden – zuletzt das Oktoberfest?

Das ist ein weiterer Punkt, der uns zu schaffen macht. Angefangen hat es mit der Frühlingsmesse Higa. Dort sorgen die Besucherinnen und Besucher zwar nicht für viele Logiernächte, darum übersieht man vielleicht die Bedeutung für die Churer Hotellerie. Diese ist aber gross, weil die Ausstellerinnen und Aussteller häufig die ganze Zeit über in der Stadt bleiben. Und die Absage der Schlagerparade ist natürlich ein herber Schlag. Das ist normalerweise das Wochenende, an dem wir jedes Hotelbett in der Stadt auch zwei- oder dreifach füllen könnten.

Sie sind seit gut einem Jahr auch Präsidentin des Verbands Schweizer Tourismus Manager, der VSTM. Wie haben Sie Ihr erstes Amtsjahr erlebt?

Als ich das Präsidium übernommen habe, war das Ziel, die VSTM besser politisch zu vernetzen. Das hat geklappt – wenn auch aus anderen Gründen, als wir uns das erhofft hatten. Die Zeit des Lockdowns war für mich als Präsidentin eine herausfordernde Zeit, aber auch eine spannende. Wir durften unsere Argumente, Sorgen und Wünsche zweimal vor dem Bundesrat präsentieren. Das ist natürlich eine Ehre. Und wir haben ja auch einiges erreicht.

Beispielsweise gibt es Geld vom Bund. Man hat aber auch das Gefühl, das Bewusstsein für die Bedeutung des Tourismus ist bei der Politik und in der Öffentlichkeit gewachsen. Woran liegt das?

Das liegt sicher mit daran, dass der Schweizer Tourismus geeint aufgetreten ist – das war eigentlich ein Novum in der Geschichte. Auch wenn die Anliegen von Hotellerie, Destinationen, Restaurants, Bergbahnen, Campingplätzen und so weiter unterschiedlich gewesen sein mögen – man hat am gleichen Strick gezogen. Das hat mich sehr gefreut.

Kommen wir noch einmal zurück auf die Situation in Chur. Wir wird es weitergehen?

Wenn ich das wüsste. Wichtig ist jetzt, den Mut trotz allem nicht zu verlieren. Es gibt ja auch sehr ermutigende Dinge. Zum Beispiel die grosse Unterstützung durch die Stadt Chur und die umliegenden Gemeinden. Dafür sind wir sehr dankbar, das hilft uns, das laufende Geschäftsjahr zu überstehen. Dann gibt es auch ermutigende Dinge. Die Gäste bleiben tendenziell länger als üblich. Und wir haben die grosse Chance, jetzt neue Gäste von uns zu überzeugen, sodass sie in Zukunft vielleicht auch ohne Coronasommer wieder nach Chur kommen.

Olivier Berger wuchs in Fribourg, dem Zürcher Oberland und Liechtenstein auf. Seit rund 30 Jahren arbeitet er für die Medien in der Region, aktuell als stellvertretender Chefredaktor Online/Zeitung. Daneben moderiert er mehrmals jährlich die TV-Sendung «Südostschweiz Standpunkte». Mehr Infos

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