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«Dass Ende 2019 eine neue Brücke steht, halte ich für unmöglich»

Diese Woche hat ETH-Professor Bernhard Elsener in Dübendorf Trümmerteile der eingestürzten Morandi-Brücke in Empfang genommen. Elsener ermittelt als einer von drei Experten die Ursache des Unglücks in Genua.

Linth-Zeitung
11.11.18 - 10:54 Uhr
Tourismus
«Es werden Blumen niedergelegt»: Experte Bernhard Elsener ist bewegt.
«Es werden Blumen niedergelegt»: Experte Bernhard Elsener ist bewegt.
PRESSEBILD

von Rahel Urech

Sie waren am Montag bei der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa in Dübendorf. Diese wird die Teile der eingestürzten Brücke von Genua begutachten. Was war Ihre Aufgabe?

Bernhard Elsener: Meine beiden italienischen Expertenkollegen haben am vergangenen Freitag beaufsichtigt, wie 13 Trümmerteile der Mitte August eingestürzten Brücke in Genua auf Lastwagen verladen wurden. Anschliessend haben sie diese versiegelt. Als die beiden Lastwagen am Montag um 17 Uhr bei der Empa eintrafen, habe ich kontrolliert, ob die Siegel noch intakt waren, und das Okay zum Abladen gegeben. Dieses habe ich verfolgt, bis alle Teile an einem sicheren Ort deponiert waren.

Weshalb werden die Beweisstücke zum Einsturz einer italienischen Brücke in der Schweiz untersucht?

Zuerst überlegten wir drei Experten natürlich, welches Labor in Italien die Teile prüfen könnte. Wir stellten jedoch bald fest, dass alle Labore entweder Verbindungen zur Autostrade per l’Italia, der Betreiberfirma der Brücke, oder zum Ministerium haben, womit sie befangen sind und wegfallen. Zudem gibt es in Italien kein Labor, das ähnlich breite Untersuchungen an Stahlbeton durchführen könnte wie die Empa.

Der Vorschlag, die Empa heranzuziehen, stammt vermutlich von Ihnen.

Richtig. Die 35 Konsulenten der Angeklagten und zum Teil der Opfer waren sofort einverstanden, denn die Empa ist bekannt. Mit der Hälfte der Spezialisten, die jetzt die Beweisstücke untersuchen, habe ich schon zusammengearbeitet und weiss, dass sie gute Arbeit leisten.

«Man hat immer im Hinterkopf, dass 43 Menschen ihr Leben verloren haben.»

Mit der Überführung der Beweisstücke ist Ihre Untersuchung noch nicht abgeschlossen. Wie oft reisen Sie nach Italien?

Seit Anfang Oktober bin ich praktisch jeden Montag, Dienstag und Mittwoch in Genua. Wenn die Untersuchungen frühmorgens beginnen, reise ich schon am Sonntagabend an. Denn die Reise mit dem Zug dauert doch fünfeinhalb Stunden.

Wie sieht der Bereich unter der Brücke denn momentan aus?

Vor Ort sieht die Einsturzstelle viel eindrücklicher aus als auf den Fotos. Ich konnte mir erst unter der Brücke vorstellen, was für eine Gewalt eingewirkt haben muss, als sie einbrach. Die meisten Trümmerteile sind mittlerweile entfernt. Aber 30 Meter rund um die noch stehenden Teile der Brücke ist Sperrzone und Autofahrer und Fussgänger müssen teilweise lange Umwege in Kauf nehmen, um an ihren Bestimmungsort zu gelangen.

Hatten Sie Kontakt zu den Menschen, die dort wohnen? Wie reagiert die Bevölkerung?

In der Zufahrt zum Hangar, den das Untersuchungsteam mit der forensischen Polizei und der Feuerwehr teilt, gibt es eine Anlaufstelle für die Bevölkerung. Dort hat es immer Leute, die diskutieren. Die Tankstellen, die Läden und die kleinen KMU, die unter der Brücke ansässig waren, haben keine Kunden mehr, einige mussten ihre Geschäfte aufgegeben. Sie protestieren, denn sie wollen, dass es endlich vorwärtsgeht und die Zone freigegeben wird.

Sie stehen unter grossem zeitlichen und öffentlichen Druck. Wie gehen Sie mit dieser beachtlichen Erwartungshaltung um?

Die italienische Untersuchungsrichterin hatte uns für den Bericht bis am 3. Dezember Zeit gegeben. Inzwischen haben wir jedoch eine Verlängerung um zweieinhalb Wochen erhalten. So können wir eine vernünftige Datenbasis generieren und den Bericht vor Weihnachten abschliessen. Vom Druck der Öffentlichkeit dürfen wir uns nicht beeinflussen lassen. Wir Experten sind im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft sehr darauf bedacht, neutral zu sein, was auch geschätzt wird.

Sie halten es für möglich, dass korrodierte Stahlkabel den Einsturz verursacht haben könnten. Was halten Sie von der kursierenden Theorie, die Brücke sei gesprengt worden?

Dies ist Unsinn. Eine andere Nebelpetarde war das Gerücht, dass eine schwere Stahlrolle von einem Lastwagen hinuntergefallen sei und die Brücke wie eine Kanone zerstört habe. Die Polizei konnte anhand von Fotos beweisen, dass der Lastwagen samt seiner Ladung von der Brücke gefallen ist.

Sie bezeichnen diese Untersuchung als die schwierigste, die Sie je geleitet haben. Weshalb?

Einerseits ist sie technisch-wissenschaftlich sehr komplex, denn es handelt sich um eine Brücke, die man heute nicht mehr so bauen würde. Statt zwei dicken einbetonierten Seilen, die erst noch über den Sattel laufen, würde man heute eine grössere Anzahl, aber dünnere Seile verwenden. Schwierig zu eruieren ist auch, wann und wie Instandhaltungsmassnahmen durchgeführt wurden. Nicht zuletzt hat die Untersuchung eine schwierige emotionale Komponente: Man hat immer im Hinterkopf, dass hier 43 Menschen ihr Leben verloren haben. Auf einer Brücke in der Nähe der Einsturzstelle legen die Leute zum Gedenken immer noch Blumen nieder.

Der Bürgermeister von Genua hat versprochen, dass bis Ende 2019 eine neue Brücke stehen wird. Für wie realistisch halten Sie diesen Wunsch?

Damit will er nur die Bevölkerung beruhigen. Noch weiss niemand, ob die neue Brücke vom Staat oder von einer privaten Firma gebaut wird. Unklar ist auch, wie der Abbruch vonstattengehen soll. Will man die Überreste der Brücke sorgfältig entfernen oder die Brücke samt den darunter stehenden Häusern abbrechen? Dass Ende 2019 eine neue Brücke steht, halte ich für unmöglich.

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