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(Fast) alles dreht sich um die Steine

Der Glarner Curler Martin Rios und seine Partnerin Jenny Perret haben an den Olympischen Spielen in Südkorea grosse Aufmerksamkeit ausgelöst – dank der speziellen Teamkommunikation («Ehepaar Chifler»), vor allem aber wegen des grossen Erfolgs mit der Silbermedaille im Mixed-Curling. Die «Südostschweiz» hat Martin Rios einen Tag in seinem Trainings

Linth-Zeitung
10.10.18 - 04:30 Uhr
Schneesport

von Andreas Eisenring

Es ist Mittwochmorgen, Curlinghalle in Biel. Schon morgens um 10 Uhr herrscht geschäftiges Treiben. Sechs Grad unter null beträgt die Raumtemperatur, dennoch tragen viele Curler bloss ein T-Shirt. Das Training ist nahrhaft. Die Nationalkader haben sich im Leistungszentrum von Swiss Curling zu einer Intensivwoche zusammengefunden. Alle sechs Rinks sind belegt, es wird angezeigt, geschrien, gewischt und analysiert. Zwischendurch absolvieren ein paar Juniorinnen immer wieder Liegestütz-Serien. Curling spielen braucht auch Kraft, nicht nur für das Wischen, erklärt Rolf Hösli, der Coach der Schweizer Juniorenmeister vom CC Glarus Belvédère AM. «Für ein Double-Take-Out muss man zuerst einmal die 20 Kilo des eigenen Steins bewegen und damit 40 weitere Kilos wegräumen.» Ohne gezieltes Krafttraining gehe es heute nicht mehr im Spitzencurling.

Praktisch die gesamte Schweizer Elite, inklusive Junioren, ist auf dem Eis: Die drei vollamtlichen Nationaltrainer, die sich der Verband Swiss Curling seit dem Wechsel des Spitzensportbereichs vom Baspo (Bundesamt für Sport) zu Swiss Olympic leisten kann, stehen im Dauereinsatz.

Rios setzt Reize: Kebab zu gewinnen

Auch die Junioren des CC Glarus , die sich als Schweizer Meister für die Weltmeisterschaft im Februar 2019 im kanadischen Liverpool qualifiziert haben, bestreiten täglich bis zu drei Eiseinheiten. Betreut werden sie von zwei Glarnern, von Rolf Hösli und von Martin Rios, dem Olympia-Silbermedaillengewinner (Mixed Doubles). Rios arbeitet in einem 60-Prozent-Pensum als Junioren-Nationaltrainer bei Swiss Curling. Die beiden werden auch als Betreuer an die WM fahren.

Hösli gibt die Trainingseinheiten vor. So geht es in einer einfachen Übung beispielsweise darum, wer am nächsten ans Zentrum herankommt mit seinem Stein. Die Abweichungen werden auf dem Tablet notiert, mit dem auch gerade die Steinabgabe gefilmt wird, was unmittelbare technische Korrekturen erlaubt.

Komplexer ist dann die Aufgabe, bei der die vier Junioren möglichst viele der 16 Steine auf die Centre-Line platzieren sollen. Es ist typisch für den Wettkampftypen Rios, dass er immer wieder spezielle Reize setzt, um den Ehrgeiz der Junioren auch im Trainingsalltag anzustacheln. Diesmal verspricht er dem ganzen Team einen Kebab, wenn es ihnen gelingt, zusammengezählt 13 Steine wie vorgegeben zu platzieren. Sie schaffen nur neun, Rios muss nicht zahlen. Ein andermal ist der Preis ein Kägi-Fret, was dem Trainer auch schon die Bemerkung eingebracht hat, er solle doch bitte gesündere Preise anbieten, Äpfel beispielsweise. Rios ist es wichtig, dass in seinen Trainings auch immer wieder gelacht werden darf. Er hat soeben die Ausbildung zum Spitzensporttrainer mit eidgenössischem Diplom abgeschlossen. Wohnsitz ist noch immer Glarus, doch momentan ist sein Lebensmittelpunkt Biel (wo seine Freundin lebt) und Magglingen (wo er vorübergehend wohnt).

Die Betreuung der Junioren und der RS-Spitzensportler ist die eine zentrale Beschäftigung, das eigene Training die andere. Der 36-Jährige ist ein Energiebündel mit anscheinend unerschöpflichen Reserven. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man einen typischen Tagesablauf im Detail anschaut. Aufstehen um 6 Uhr, dann Joggen vor dem Frühstück. Krafttraining mit den Junioren in Magglingen, um 10.30 Uhr nach Biel zum Eistraining. Ohne Unterbruch geht es weiter, denn um 12 Uhr wird der Coach selber zum Athleten. Seine Mixed-Partnerin Jenny Perret, die ebenfalls zu 60 Prozent als kaufmännische Angestellte arbeitet, erscheint zum Mittagstraining. Die beiden stecken bereits mitten in der Saison, nahmen in China an der Premiere des World Cup teil und gewannen vor zwei Wochen das WCT-Weltcupturnier in Tallinn.

Fürs Mittagessen bleibt keine Zeit. Die stämmige Frohnatur kommentiert das mit einem typischen, selbstironischen Rios-Spruch: «Ist nicht so schlimm, wenn das Essen zu kurz kommt. Ich falle deswegen nicht aus der Hose.» Um 14 Uhr geht es wieder weiter mit den Juniorentrainings. Und auch der «Feierabend» gehört dem Curling: Rios spielt in Bern mit seinem Vierer-Team die Klubmeisterschaft. Nachts gilt es dann noch Mails abzuarbeiten, und nach kurzem Schlaf ruft schon der nächste reich befrachtete Curlingtag.

Olympiamedaille hat finanziell etwas bewegt

Und wie hat sich die Olympiamedaille bezüglich Sponsoren und in finanzieller Hinsicht ausgewirkt? «Ja, es hat sich schon etwas getan», meint Rios, «wir haben einen Sponsor gefunden, und es gibt noch zwei, drei mündliche Zusagen. Falls die wirklich zustande kommen, sieht es gut aus für unser geplantes Vier-Jahres-Budget bis zu den nächsten Olympischen Spielen.» Konkret schlägt vor allem ein Kontakt zu Buche: Der Arbeitgeber von Jenny Perret, Stadler Stahlguss (Stadler Rail), konnte als Sponsor gewonnen werden. Das reicht zwar immer noch nicht, um als Curling-Vollprofi leben zu können, aber sichert doch die langfristige Planung ab. Dass sie beim Vorhaben OS Peking 2022 harte interne Konkurrenz vom Team Sven Michel/Michèle Jäggi zu fürchten brauchen, ist nicht anzunehmen, denn die Weltmeister dieses Jahres haben sich bereits wieder getrennt, weil sich Sven Michel für das Vierer-Nationalteam entschieden hat.

Martin Rios sind auch 100 Kilometer nicht zu viel

Martin Rios setzt sich sportlich hohe, bzw. immer die höchsten Ziele: «Ja, da gibt es nur noch etwas, das fehlt, Olympiagold.» Der ehrgeizige Curler glänzt aber auch auf artfremden Gebieten als willensstarker Athlet. Bereits zum zehnten Mal hat er den 100-km-Lauf von Biel absolviert und dabei neun Mal das Ziel erreicht. Und dieses Jahr hat er mit 12 Stunden 32 Minuten und 45 Sekunden sogar persönliche Bestzeit erzielt. Unterstützt worden ist er dabei von seiner Curlingpartnerin Jenny Perret, die ihn als Betreuerin mit dem Fahrrad in der ganzen Nacht begleitet hat.

Typisch für Rios ist, wie es überhaupt dazu kam, in Biel zu starten: «Ich hatte vor einigen Jahren wieder mal ‘ä grossi Schnurrä’.» Er habe 2007 im Gespräch mit einer Triathletin die Behauptung aufgestellt, so eine Ausdauerleistung könne jeder schaffen, wenn er genug willensstark sei. «Ja, und dann musste ich halt liefern …», schmunzelt er.

Drei Nachbarskinder fahren an die Weltmeisterschaften

Als Schweizer Meister des Jahres 2018 hat sich der CC Glarus Belvédère einen Platz an den Junioren-Weltmeisterschaften ercurlt. Es ist die Geschichte von den drei Nachbarskindern aus Ennenda, Marco und Philipp Hösli sowie Marco Hefti, die sich im Februar im Curling-Mutterland Kanada mit der Weltspitze messen werden. «Die drei sind in unmittelbarer Nachbarschaft aufgewachsen», erklärt Teamcoach Rolf Hösli, «zusammen besuchten sie zuerst das Geräteturnen, dann begannen sie gemeinsam mit Tennis, ehe sich ihre Wege vorübergehend trennten.»

Nach Versuchen im Fussball und Unihockey fanden sie dann vor acht Jahren beim Curling wieder zusammen. «Dabei spielte sicher eine Rolle, dass mit Jan Hauser und Valeria Spälty zwei Glarner Curler an Olympischen Spielen Medaillen holten», betont Hösli die Vorbildfunktion der lokalen Aushängeschilder, die einst bei ihm als Junioren das Curling-ABC gelernt haben.

Um diese Glarner Zelle mit Skip Marco Hösli herum ist jetzt ein zukunftsträchtiges Team entstanden, das mit Jannis Spiess (19) und Justin Hausherr (18) ergänzt worden ist. Die fünf sind Gymnasiasten, Studenten oder machen eine Lehre. Gemeinsam ist das nicht einfache Bestreben, Spitzensport und Ausbildung zu koordinieren.

Philipp Hösli beispielsweise besucht die Kantonsschule in Glarus, wobei mit der Schule folgende Abmachung gilt: Er bekommt für alle nötigen Tage frei (etwa 30 pro Jahr), muss aber den verpassten Schulstoff eigenverantwortlich nachholen. «Und die Noten müssen stimmen, damit diese Vereinbarung gültig bleibt», erklärt Philipp Hösli, mit 16 Jahren der klar Jüngste im Team.

Und wie ist das für den Coach, wenn er zwei Söhne unter seinen Fittichen hat? «Das geht gut», meint Vater Hösli, «aber ich muss natürlich schon aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, ich würde einen meiner zwei Söhne bevorteilen.»

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