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«Die zweite Welle ist schon hier»

Die Glarner Kantonsärztin Marina Jamnicki spricht über die Corona-Lage und eine mögliche Maskenpflicht in Glarner Geschäften.

Ueli
Weber
20.09.20 - 04:30 Uhr
Politik
«Die Massnahmen zeigen, dass wir es schaffen, die Verbreitung einzudämmen», sagt Kantonsärztin Marina Jamnicki.
«Die Massnahmen zeigen, dass wir es schaffen, die Verbreitung einzudämmen», sagt Kantonsärztin Marina Jamnicki.
PHILIPP BAER

Frau Jamnicki, Sie sind als Kantonsärztin für die Bewältigung der Corona-Pandemie im Glarnerland zuständig. Im Kanton scheint die Lage mit nur wenigen Fällen derzeit ruhig. Ist das so?

In Glarus war es in den letzten Tagen und Wochen tatsächlich sehr ruhig. Wobei der Vorfall im Zusammenhang mit dem Grümpelturnier und der Bar gezeigt hat, dass die Ruhe täuscht. Es kann sich sehr schnell ändern. Gerade in Glarus gibt es eine grosse Pendelbewegung in Richtung Zürich, insbesondere viele Studenten, was zu einer Durchmischung führt. In Zürich gibt es mehr Fälle, weshalb sich die Pendler eher anstecken können. Dazu muss ich aber ganz klar sagen: Massgebend ist das persönliche Verhalten. Entscheidend ist nicht so sehr, wo man sich geografisch aufhält, sondern die Örtlichkeit: in einer Bar, auf einer Party oder auf einer einsamen Alp. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Man soll Abstand halten und sich die Hände waschen.

Rechnen Sie mit einer zweiten Welle?

Die zweite Welle ist schon hier, wenn auch sehr langsam und flach. Die ganzen Massnahmen – das Abstandhalten, die verstärkte Händehygiene und die Masken – zeigen, dass wir es schaffen, die Verbreitung einzudämmen. Unser Ziel ist schlussendlich, dass wir nicht überschiessend viele Fälle haben, damit das Gesundheitswesen nicht überlastet wird. Die zweite Welle wird aus zwei Gründen sicher noch schlimmer werden. Erstens werden sich die Leute in den kommenden Wochen nicht mehr so oft draussen aufhalten, sondern drinnen, weil das Wetter kühler wird. In einem geschlossenen Raum ist das Ansteckungsrisiko höher als draussen, gerade wenn der Raum nicht sehr gross ist und nicht gut gelüftet wird. Zweitens kommt die bevorstehende Grippe- und Erkältungssaison. Es wird sehr schwierig werden, diese beiden Krankheiten auseinanderzuhalten.

Sind wir gewappnet für die Schnupfensaison?

Die Ärzte und Spitäler bereiten sich vor, haben sich Gedanken gemacht und zum Teil auch schon konkrete Vorkehrungen getroffen, sodass man mehr Personen testen kann. Also sowohl bei den Hausärzten als auch in den Spitälern. Bei den Ärzten sind die Kapazitäten da. Der zweite Punkt sind die Laborkapazitäten, wo im Moment Umfragen laufen. Soweit ich gehört habe, sind auch da genügend Kapazitäten vorhanden.

Sollte man in den Ferien zu Hause bleiben?

Prinzipiell zu den Ferien möchte ich sagen, dass jegliche Reisetätigkeit massgebend zur Verbreitung einer Pandemie beiträgt. Egal ob Covid oder die Schweinegrippe: Leute, die unterwegs sind, verbreiten ein Virus stärker. Im Hinblick darauf ist es sicher schlauer, wenn man zu Hause bleibt. Das ist ein wichtiger Punkt. Ansonsten gelten die gesetzlichen Vorschriften des jeweiligen Reiselandes und die Bestimmungen zur Einreisequarantäne nach der Rückkehr.

Sind Skiferien eine gute Idee?

Zum Thema Skiferien laufen Vorbereitungen. Ich bin auch in Graubünden Kantonsärztin. Das ist ein grosser Skikanton. Da sind wir schon im regen Austausch mit den Tourismusverbänden, der Hotellerie und den Bergbahnen. Die grosse Frage lautet: Wie gehen wir damit um? Man denke einerseits an die Bergbahnen, die klassischen Zubringerdienste: Wenn viele Leute in eine Gondel drängen, stellt das eine Risikosituation dar. Natürlich kann man sagen, es herrscht eine Maskenpflicht in der Gondel, sie gehört schliesslich zum öffentlichen Verkehr, aber wenn ich mir dann vorstelle, mit einer chirurgischen Maske Ski zu fahren, das dürfte schwierig werden. Andererseits muss man die Situation in den Gastronomien auf den Skipisten anschauen, da gibt es verschiedene Ansätze, definitiv entschieden ist noch nichts. Die Knackpunkte sind die Zubringer, die Gondeln, es ist die Gastronomie auf der Piste und natürlich das ganze Après-Ski. Da wäre ich als Feriengast sehr, sehr vorsichtig. Dann soll man sich doch lieber auf die Kerngruppe besinnen, mit der man unterwegs ist, und auf das grosse Feiern nach dem Skifahren verzichten.

Sollten sich dieses Jahr mehr Leute impfen lassen?

Vom BAG gibt es die Impfempfehlungen gemäss Impfplan. In Bezug auf die Grippeimpfung sollen sich die Risikopersonen impfen lassen, also Gesundheitsfachpersonen, Personen über 65 und Personen mit Grunderkrankungen, die zu einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf führen. Tatsache ist, dass wir zwar mehr Impfstoff als sonst zur Verfügung haben, aber nicht doppelt so viel. Diese Herstellungsprozedere sind sehr träge und laufen ungefähr ein Jahr im Voraus. Wenn sich von den Personen, für die eine Grippeimpfung empfohlen ist, mehr impfen lassen als bisher, dann haben wir schon sehr viel erreicht.

Was sind besonders kritische Risikosituationen oder -orte, die man möglichst meiden sollte?

Grundsätzlich sind es die Situationen, in denen man sich für längere Zeit sehr nahe ist. Dabei spielt es keine Rolle, wo jetzt diese Örtlichkeit ist: ob in der Kirche, an einem Konzert, im Kino oder in der Vorlesung ohne Maske, egal wo. Auch Orte, an denen laut geredet oder gesungen wird, sind zu meiden. Man stelle sich vor: Ein Eishockeymatch, wo gebrüllt wird oder ein Chor, in dem gesungen wird – überall dort, wo man, bildlich gesprochen, mit viel Kraft die Viren aus seiner Lunge rausstösst, dort sind Risikosituationen.

Wie viel Sicherheitsabstand sollte man drinnen und draussen einhalten? Anderthalb Meter oder doch lieber gleich zwei?

Die anderthalb Meter reichen. Man muss sich diese virenhaltigen Tröpfchen, die aus dem Mund herauskommen, vorstellen wie einen Ball, den man wirft. Der geworfene Ball fliegt ja zuerst ein Weilchen geradeaus und dann in einer Kurve nach unten. Genau so verhalten sich diese Tröpfchen auch. Bei etwa anderthalb Metern sind 80 Prozent der Tröpfchen schon auf den Boden gefallen. Insofern reichen die anderthalb Meter.

Die Maske ist im ÖV schon obligatorisch, in den Shops nicht überall, wie ist es bei der Arbeit?

Eine Maske ist als Ersatz für Abstand zu sehen. Das Ziel eines jeden sollte sein, einerseits zu verhindern, dass man sich selber ansteckt und andererseits, sollte man unerkannt krank sein, jemand anderen ansteckt. Es gibt also zwei Gründe, eine Maske zu tragen: Selbstschutz und der Schutz des anderen. Ein weiterer wichtiger Punkt bei diversen Veranstaltungen ist folgender: Wenn ich eine Maske trage, verhindere ich für mich eine Quarantäne. Denn wenn in dieser Gruppe, in der ich unterwegs war, jemand an Covid erkrankt ist, ich aber eine Maske anhatte, dann muss ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in Quarantäne. Und wenn auch mein vis-à-vis eine Maske trägt, also sowohl die infektiöse Person, als auch die potenziell infizierte Person, dann ist der Schutz noch viel besser.

Würden Sie sich bei steigenden Fallzahlen auch im Kanton Glarus für eine Maskenpflicht beim Einkaufen aussprechen?

Bei der jetzigen epidemiologischen Lage wäre es nicht gerechtfertigt. Die Ostschweizer Kantone stehen in regem Austausch miteinander, die Maskenpflicht beim Einkaufen ist ein Dauerthema. Sollte sich die Lage ändern wie etwa zuletzt in der Waadt, wäre die Ausdehnung der Maskenpflicht sicher eine der möglichen Massnahmen.

Sie teilen sich den Posten der Kantonsärztin in Glarus und Graubünden mit Corinna Schön. In der Coronakrise kümmerte sich ihre Kollegin Schön um das Glarnerland, Sie waren für Graubünden zuständig. Jetzt betreuen Sie, unterstützt von drei weiteren Ärzten, auch das Glarner Corona-Dossier. Funktioniert diese Arbeitsteilung unter vier Ärzten?

Sowohl Glarus wie auch Graubünden haben per 1. September je eine Kantonsarzt-Stellvertretung angestellt. Zudem unterstützt uns in Glarus seit der ersten Welle ein pensionierter Hausarzt. Wir vier Ärzte tauschen uns sehr intensiv aus und stehen mehr oder weniger täglich in Kontakt zueinander. Natürlich nicht immer persönlich, auch wir nutzen die elektronischen Möglichkeiten. Die beiden Glarner Ärzte sind sehr im Glarnerland verwurzelt, sie kennen die wichtigen Köpfe. Meine Rolle ist eher übergeordnet, zudem bin ich das Bindeglied zum Bund beziehungsweise zum BAG und zu den anderen Ostschweizer Kantonsärzten.

Nachdem eine mit dem Coronavirus infizierte Frau eine Bar in Glarus und ein Grümpelturnier in Matt besuchte, mussten rund 400 Personen in Quarantäne geschickt werden. Sind Sie zufrieden, wie das Contact-Tracing in diesem Fall funktioniert hat?

Ja, es hat gut funktioniert. Ob ein Contact Tracing gut funktioniert, erkennt man daran, ob Personen im Umkreis des Indexfalles erkranken, ohne dass sie vorher in Quarantäne gesetzt wurden. Passiert das, müsste man sagen, das Contact Tracing hat nicht optimal funktioniert. Das war bisher nicht der Fall.

Mitleid und Verständnis für Corona-Infektionen lassen teilweise nach und weichen Unverständnis. Man sei selbst schuld, wenn man sich anstecken liesse. Wie stehen Sie zu «Corona-shaming»?

Das kann ich nur verurteilen. Man ist nicht schuld, wenn man sich an einer ansteckenden Krankheit ansteckt. Es sagt ja auch niemand: «Huh, du bist selber schuld, du hast dir einen Schnupfen geholt.» Man kann durch sein Verhalten das Risiko vermindern, aber es ist nicht so, dass man sich extra ansteckt oder mit dem richtigen Verhalten das Risiko Null ist.

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland. Mehr Infos

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