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Kanton St. Gallen will noch mehr Barrieren «herunterreissen»

Wirkt die St. Galler Behindertenpolitik? Ein soeben publizierter Bericht meint Ja. Trotzdem will der Kanton verschiedene Massnahmen ergreifen – unter anderem Projekte von Betroffenen für Betroffene.

Linth-Zeitung
15.01.19 - 04:30 Uhr
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Die Hürden sind immer noch zahlreich: Ein Hundeverbot im Museum stellt für eine sehbehinderte Person gleichermassen ein Problem dar wie eine zu steile Zufahrtsrampe zum Zug für eine Rollstuhlfahrerin. Symbolbild Gaetan Bally/Keystone
Die Hürden sind immer noch zahlreich: Ein Hundeverbot im Museum stellt für eine sehbehinderte Person gleichermassen ein Problem dar wie eine zu steile Zufahrtsrampe zum Zug für eine Rollstuhlfahrerin. Symbolbild Gaetan Bally/Keystone

Der St. Galler FDP-Regierungsrat Martin Klöti kennt die Zuschauerinnen und Teilnehmer der Medienkonferenz persönlich. Mehrere von ihnen haben eine sichtbare Behinderung, sitzen im Rollstuhl, werden von einem Blindenführhund begleitet, schauen auf die Gebärdensprache der Übersetzerin. Klöti kennt sie, weil sie Vertreterinnen und Vertreter von Interessengruppen und Institutionen sind, die gemeinsam mit ihm und dem Kanton den Wirkungsbericht Behindertenpolitik erstellt haben.

Der Bericht ist die erste Analyse des 2013 in Kraft getretenen «Gesetz über die soziale Sicherung und Integration von Menschen mit Behinderung». Das Urteil: Im Grossen und Ganzen sei die Umsetzung und die Richtung der St. Galler Behindertenpolitik erfreulich. Der Bericht sieht aber auch Lücken: Beim Zugang zu öffentlichen Grundleistungen beispielsweise, zu Gebäuden, zu Informationen und damit auch zur politischen Partizipation.

Teilhabe von Betroffenen wichtig

Domenica Griesser ist im Vorstand des Ostschweizer Blinden- und Sehbehindertenverbandes und erläutert die vorhandenen Barrieren anhand mehrerer Beispiele: Dass eine Webseite zuletzt einen für sie unmöglich entzifferbaren Bildcode verlangt, bevor das bereits ausgefüllte Formular abgesendet werden kann. Dass ein Museum ihrem Blindenführhund den Einlass verweigert. Dass der modernste Doppelstöckerzug von Rollstuhlfahrerinnen nicht ohne Hilfe verlassen werden kann, weil die Rampe zu steil ist.

Letztes Beispiel zeigt anschaulich, weshalb die Teilhabe von Betroffenen an Gesetzen, Wirkungsberichten und Politik so wichtig ist: Die SBB glau- ben nämlich, die Züge seien genügend behindertengerecht, während Menschen, die eine Behinderung haben, dies verneinen und deshalb bis vor Bundesgericht ziehen.

Griesser erzählt auch, dass sie das oben erwähnte Museum dann doch in Begleitung ihres Hundes besuchen durfte. Aber nur, weil der Direktor meinte: «Wir machen für Sie eine Ausnahme.» Eine Aussage, die Griesser sauer macht: «Wir wollen keine Ausnahme sein! Wir wollen nur, dass das Gesetz eingehalten wird.»

Förderkredit über 400 000 Franken

Damit eine Behinderung Menschen nicht zur Ausnahme macht, ist die Stärkung der Selbsthilfe enorm wichtig. Laut Wirkungsbericht ist diese als Basis aller behindertenpolitischen Massnahmen gut ausgebaut. Man müsse Betroffene aber noch konkreter unterstützen. Eine erste Massnahme, um diese Lücke zu schliessen, kann Christina Manser, Leiterin des Am- tes für Soziales, bereits vorstellen. Über einen «Förderkredit Stärkung für Betroffene» wird der Kanton in den nächsten fünf Jahren insgesamt 400 000 Franken zur Verfügung stellen. Die Gelder gehen an Projekte von und für Menschen mit Behinderungen, welche Selbsthilfe und Eigenverantwortung stärken wollen. Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Wirkungsberichts ist für Manser die Erkenntnis, dass immer mehr Menschen an psychischen Behinderungen leiden. Der Kanton möchte die Zahl der Neuerkrankungen senken und eine Arbeitsgruppe einsetzen, die entsprechende Massnahmen ausarbeiten wird.

Peter Hüberli-Bärlocher erläutert derweil, welche Konsequenzen die Institutionen ziehen. Der Präsident des Branchenverbandes Insos St. Gallen-AI freute sich darüber, dass die Ergebnisse des Wirkungsberichtes nicht einfach auf einem extern erstellten Fachpapier stünden, sondern dass es von und mit Betroffenen erstellt wurde. Ein Vorgehen, dass auch in den Institutionen seine Wirkung entfalte. «Um die Mitsprache zu verbessern, möchten wir Bewohnerinnen-Räte und Personal-Räte schaffen», sagt Hüberli-Bärlocher. Ausserdem sollen Angebote verstärkt werden, bei welchem Betroffene andere Betroffene beraten, der sogenannte Peer-Support.

Bericht verständlich übersetzt

Dass es dem Kanton wichtig ist, dass Betroffene mitreden und teilnehmen können, zeigt sich auch daran, dass er den Wirkungsbericht übersetzen lassen hat. Er ist nicht nur original, sondern auch in Leichter und in Einfacher Sprache publiziert worden. Für einige Betroffene werden die Aussagen erst damit verständlich – und ermöglicht es ihnen damit, sich aktiv in die Diskussion um Behindertenpolitik einzubringen.

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