×

Begegnungen mit Helga Schubert in den 80ern

Helga Schubert ist mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden. Da erinnere ich mich an Lesung und Gespräch mit ihr 1988 im Tagungszentrum Schloss Wartensee, Rorschacherberg. Als Titel der Veranstaltung wählten wir ein Zitat aus ihrem Buch «Judasfrauen»: «Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge». Darin verarbeitet sie ihre Recherche über Denunziantinnen in der Nazizeit. Sie wolle die Abscheu gegen solches Verhalten wachhalten. Wer vor 1945 sagte: «Wir werden den Krieg verlieren», konnte mit dem Tode bestraft werden. Wer jetzt die aktuellen Zustände in der DDR kritisiere, müsse allenfalls mit Gefängnis rechnen. Positiv wertete sie das Volkseigentum an Grund und Boden in der DDR. - Ich bin ihr ein Jahr vorher in einer Kirchgemeinde in Berlin begegnet. Eben war ihr Buch «Blickwinkel» erschienen. Darin werden auf «stilistisch ungewöhnlich präzise Art Schicksale aus dem DDR-Alltag geschildert». Nach ihrer Ansicht müsse Literatur immer provinziell sein – «was überall sein kann, ist nirgends». Existenziell wichtig war ihr die Mitgliedschaft im Schriftstellerverband der DDR, noch kein Mitglied sei im Gefängnis gelandet. Sie wolle ihre Meinung offen und ehrlich sagen. Sie habe eine Geschichte über die Partei geschrieben, dafür aber keine Druckgenehmigung erhalten. Konsequent wende sie sich gegen jede Eindimensionalität, gegen jeden Anspruch auf Unfehlbarkeit. Kollegen hätten sie im Schriftsteller­verband beschimpft, sie sei zu wenig marxistisch – und seien dann später in den Westen abgehauen. Fanatische Menschen seien anfällig, Konvertiten zu werden. Sie wollten immer mit der Autorität in Übereinstimmung leben. Literatur aber müsse auch die Gegenseite zur Sprache bringen, Widersprüche aufdecken, weg kommen von Hass oder Bewunderung. Sie erwähnte hoffnungsvoll den Berater von Gorbatschow, Arbatow: Es gehe nicht mehr um den Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus (oder umgekehrt), sondern um Frieden. Diese mutige, engagierte Schriftstellerin beeindruckte mich.

Arne Engeli
23.06.20 - 19:06 Uhr
Leserbrief
Ort:
Rorschach
Zum Artikel:
«Ingeborg-Bachmann-Preis geht an die Deutsche Helga Schubert», Ausgabe vom 22.06.2020
Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.