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Das sind Andri Perls Perlen

Andri Perl hat am Mittwochabend den Bündner Literaturpreis 2019 entgegengenommen. Er wurde für seine Aktivitäten als Autor, Dramaturg und Rapper ausgezeichnet – und als Kolumnist. Seine liebsten Kolumnen könnt Ihr hier nachlesen.

Südostschweiz
13.02.19 - 19:07 Uhr
Kultur

Der Bündner Andri Perl ist für seine besonderen Verdienste um die Literatur Graubündens ausgezeichnet worden. Am Mittwochabend konnte er in der Kantonsbibliothek den mit 10'000 Franken dotieren Bündner Literaturpreis 2019 entgegennehmen. Es ist die Anerkennung seiner vielseitigen Tätigkeiten als Autor von Romanen, Erzählungen und Lyrik sowie als Dramaturg und Rapper bei der Band Breitbild.

Seit einigen Jahren erscheinen in der Zeitung «Südostschweiz» regelmässig seine Kolumnen über Politik, Poesie und Polemik. Wir haben die Literaturauszeichnung zum Anlass genommen, Perl nach seinen drei liebsten Kolumnen zu fragen, die jemals veröffentlicht wurden. Er wählte Worte übers Träumen, Fliegen, Schweizermachen und eine Ansichtskarte.

Hier könnt Ihr sie nachlesen:

Ich habe nichts gegen Ausländer vom 1. März 2016

Aber es gibt zu viele von ihnen in der Schweiz. Pampf. Ist so. Ausserhalb der Schweiz gibt es noch mehr, richtig, aber die sind dann doch häufig Inländer in ihrem Ausland. Lassen wir das ausser Betracht. Weshalb findet ein Menschenfreund und Sozi in der Woche nach dem Triumph über die DSI, es gebe zu viele Ausländer in der Schweiz?

Ganz einfach: Weil die meisten von ihnen Schweizer sein sollten. Weil es nicht länger angehen kann, dass wir von ihnen und wir sprechen. Stellen Sie sich vor, Sie lebten seit Geburt an ihrem Wohnort, den sie ungeniert und in akzentfreiem Dialekt Heimat nennen. Sie hätten in dieser Zeit den Turnverein geleitet, Kinder eingeschult und Tausende von Steuerfranken bezahlt. Und dann stellen Sie sich vor, Sie hätten am letzten Wochenende nicht über die seit Jahren wichtigste Initiative abstimmen dürfen. Eine Initiative, die sie direkt betrifft, weil Sie Ausländerin sind. Sie sind immer noch Ausländerin, weil es Ihrem Gerechtigkeitssinn widerspricht, neben den Tausenden von Steuerfranken auch noch Tausende Franken fürs Stimmrecht zu zahlen – während ihr denkfauler Nachbar, der sein Stimmrecht gar nie nutzt, es als Schweizer geschenkt bekam.

Stossend, nicht? Auf Gemeindeebene führen deshalb zum Glück immer mehr Bündner Gemeinden das Ausländerstimmrecht ein. Wir sollten weitergehen. Wir sollten das Selbstverständnis der Bevölkerungsmehrheit in unserem Bürgerrecht abbilden: «Wir» sind alle, die wir hier über längere Zeit zusammenleben.

Also: Wessen Grosseltern schon in die Schweiz eingewandert sind, soll von Geburt an Schweizerin sein. Wer als Kind fünf Jahre (höchstwahrscheinlich den grössten Teil seines Lebens) in der Schweiz verbracht hat, gehört zu uns und soll Schweizer sein. Die Staatsbürgerschaft soll am Anfang des Zusammenlebens stehen und nicht am Ende einer Staatskundeprüfung. Und: Die Verleihung des Schweizer Bürgerrechts soll in der ganzen Schweiz gleich gehandhabt werden, nicht von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Das ist ein Gebot des Zusammenhalts und der Gerechtigkeit. Los! Senken wir den Ausländeranteil in unserem Land.

 

Ansichtskarte vom 16. August 2016

Ein kleines Kastell auf einem Hügel in einer Landschaft, die die Strassen kurvenreich macht. Die Verteidigungsanlage einer uralten Stadtrepublik. Sie liegt vielleicht eine Fussstunde vor deren mächtigen Schutzwällen.Verteidigt wurde die Stadtrepublik hier gegen die nächstgelegene Stadtrepublik. Auf dem Turm entzündeten aufgeschreckte Wächter die Warnsignale und mussten als Erste dran glauben, wenn die Nachbarn wieder anrückten. Die Burg wurde viele Male geschleift. Aber sie wurde einmal mehr aufgebaut als geschleift.

Aufgebaut aus Tuff und roter Terracotta. Nach dem Untergang der Republik und vor der Geburt der viel grösseren Republik ging das kleine Kastell in den Besitz einer adligen Familie über, die sich irgendwann keine Macht mehr auf ihren Titel einbilden durfte, doch so viel Land hatte, dass sie das Kastell einfach vergass. Sie zögerte nicht lange, als Giovanni ihr vor dreissig Jahren ein Kaufangebot machte. Giovanni ist Weinbauer und haucht seine Muttersprache so sanft, als ob er sonst die Schwalben unter den Dächern hervorscheuchen würde.

Er hat uns einen Teil des Kastells vermietet. Längst ist es wohnlich gemacht. Eine schattige Verteidigungsanlage gegen den August. Wir haben uns mit Zucchiniblüten und Zitronenwasser bewaffnet und unternehmen Strafexpeditionen in die nahen Eisdielen. Vorhin hatte ich kurz das Gefühl, dass hier alles glitzert, weil ein glitzerndes Mineral in der Luft liegt. Ein Mineral, das die ganze Gegend schmückt. Aber so ist es dann doch nicht. Der Glitzer kommt aus der Sonnenmilchtube meiner Lieben.

Gut, dass wir dem Adel nicht nur die Kastelle, sondern auch das Privileg des Urlaubs abgenommen haben. Eine Errungenschaft, die als solche in zu vielen Sechstagewochen vergessen geht. Für Abergenerationen von Bäuerinnen, Handwerksburschen oder Bediensteten, für die aufgeschreckten Wächter auf dem Turm des Kastells, also für die Bevölkerung per se, waren Ferien ein Konzept ausserhalb des Vorstellbaren. Gut, haben wir diesen Arbeitskampf geführt und gewonnen.

Sehr gut. Und da ich gerade am Schreiben bin: Liabi Mama, liaba Papa. As isch wunderschön do. Ds Wetter isch super und dr Wii au. I bin wia immer zfuul zum Karta schriiba, aber I han jo jetz a Kolumna. Grüass und Küss. Andri.

 

Vom Fliegen und von der Freiheit vom 24. Juli 2018

Immer wieder träume ich davon. Allein durch meine Willenskraft entziehe ich mich der Gravitation, hebe ab, schraube mich in die Höhe und fliege. Fliege, wohin ich möchte. Über vom Wind gekämmte Wipfel dunkler Wälder. Über alle Wasser, Savannen und Gletscher. Über Alpweiden und sanfte Abhänge hinunter in ein Tal, das ein unerklärbares Glück verspricht. Ich segle, düse, schlage meine unsichtbaren Schwingen. Manchmal kontrolliere ich meinen Flug wie eine grosse Libelle, manchmal greift mich das Wetter oder eine andere Macht wie einen Drachen.

Diese Träume sind Träume der Freiheit. Der Freiheit zu und der Freiheit vor. Einerseits der Freiheit, sich dorthin zu bewegen, wo immer ich mich hinbewegen möchte. Andererseits der Freiheit vor einer drohenden Gefangenschaft oder Schlimmerem, vor Häschern, die mir dicht auf den Fersen sind. Hin und wieder sind meine Träume so luzide, dass ich meinen Flug für bare Wirklichkeit nehme und nach dem Erwachen einen Morgen lang in leichte Trauer verfalle darob, dass ich unweigerlich nach unten falle, wenn ich abspringe.

Ich kann nicht fliegen. Leider. Aber kann mir jederzeit zu einem Flug verhelfen, wenn mir danach ist. Kann mich von einer Maschine zu den Weinkellern Portos tragen lassen. Zu den Wolkenkratzern Taipehs. Oder zu einem Fussballspiel nach Malta, um dort 1:17 zu verlieren. Liebe Grüsse an Gimma und die Sportkameraden der FA Raetia an dieser Stelle. Und danach kann ich ein paar Bäume pflanzen oder mich mit der Gewissheit quälen, dass mein Lebensstandard ein Problem für den Planeten ist.

Nach Malta fliegen. Es ist nach über hundert Jahren Aeronautik so einfach. Nach Paris, Stockholm oder Zürich. Unsere Wunschdestinationen erreichbar innert weniger Stunden. Im Prinzip von jedem Flughafen der Welt. Ausser natürlich wenn uns das Privileg der richtigen Staatsbürgerschaft fehlt. Kein Visum, sorry! Keine Boardingkarte für den Flug nach Züri, sorry!

Dann bleiben wir auf dem harten Boden der Tatsachen. Und um unsere Träume, unsere Freiheit zu und vor, unser Leben und das der Unseren zu erhalten, nehmen wir alles Geld, das wir haben, und leihen dasjenige der Nachbarn und Verwandten, nehmen so viel Geld, dass wir damit zehnmal nach Zürich fliegen könnten, wenn wir dürften, und machen uns auf den Landweg. Den Kleinbusweg zum Sammelpunkt. Den Lastwagendeckweg durch die grosse Wüste. Den Sklavenarbeitsweg in einer fremden Stadt. Den Durst-und-Hungerweg. Den Internierungslagerweg. Den Faustschlag- und Zwangsprostitutionsweg. Noch leben wir, wir gehen weiter. Und wenn das Land zu Ende ist, steigen wir in ein Boot, von dem wir hoffen, dass es seetauglich ist. Ist es nicht.

Fabio Zgraggen kann fliegen. Zum Glück. Nach Malta. Und von Malta aus. Er ist Pilot. Seine Organisation, die Humanitarian Pilots Initiative (HPI), startet von Malta aus Suchflüge über den internationalen Gewässern vor der libyschen Mittelmeerküste. Und meldet in Seenot geratene Boote an Rettungsschiffe der Hilfsorganisationen. Die Piloten von HPI arbeiten ehrenamtlich – wenn man sie denn lässt. Im Zuge der Kriminalisierung der Lebensretterinnen und Lebensretter im Mittelmeer haben die maltesischen Behörden den Propellermaschinen der HPI die Starterlaubnis entzogen. Die HPI muss den Rechtsweg gehen.

 

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