×

Von Tahiti bis Trondheim: Der Engadiner Blick prägte die Welt

Das 1901 gegründete Unternehmen Engadin Press in Samedan erlebte in den Sechziger- bis Achtzigerjahren eine Hochblüte und holte Aufträge von Norwegen bis Polynesien nach Graubünden.

Südostschweiz
19.01.20 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Besuch aus Bora Bora: Die Familie von Erwin Christian aus Polynesien wird 1972 von Herbert Haueter (rechts) durch die Druckerei in Samedan geführt.
Besuch aus Bora Bora: Die Familie von Erwin Christian aus Polynesien wird 1972 von Herbert Haueter (rechts) durch die Druckerei in Samedan geführt.

von Urs Oskar Keller

«Als ich 1970 mit meinem Geschäftspartner Knut Aune den Stand der Engadin Press an der weltgrössten Messe für Papier, Bürobedarf und Schreibwaren, ‘Paperworld’ in Frankfurt am Main besuchte, waren wir von der Qualität der ausgestellten Produkte schlicht überwältigt», erzählt Kolbjörn Dekkerhus, damals Cheffotograf und Teilhaber des grössten norwegischen Aune-Kunstverlages bei einem Besuch in seinem Haus im Städtchen Röros in Mittelnorwegen. Seit den Siebzigerjahren liess der Verlag aus Trondheim jährlich sechs Millionen Postkarten und 150000 Kalender in Samedan drucken. Dekkerhus: «Obschon wir in unserem Verlag selbst über eine gute Druckerei verfügten, war die Druckqualität in der Schweiz weit besser als in Norwegen. Die Qualität war ausserordentlich gut, darum haben wir in der teureren Schweiz drucken lassen. Die Engadin Press zählte unter der Leitung von Herbert Haueter weltweit zu den besten Druckereien.» Wegen dieser grossen Druckaufträge bekamen die Norweger Spezialkonditionen.

Der 99-jährige Fotograf, der im letzten Herbst starb, besuchte etwa 50 Mal – jeweils im Frühling und Herbst – das Unternehmen in Samedan, das er als Kleinaktionär unterstützte. «Geschäftspartner Knut Aune und ich mussten ja auch Korrekturen lesen und das Gut zum Druck für unsere Drucksachen geben.» Herbert und Ruth Haueter luden Kunden gerne in ihre gemietete Alphütte «Alpetta», hoch über Samedan gelegen, ein, wo sie ihre Gäste aus aller Welt bewirteten. «Es war wunderbar dort oben. Meistens gab es feine Spaghetti und Entrecote vom Grill», erzählte Kolbjörn Dekkerhus in fliessendem Deutsch mit nordischem Akzent. Die fertigen Drucksachen wurden per Lastwagen auf dem Land- und Seeweg in den hohen Norden befördert.

Von der Südseeinsel Bora Bora in die Kälte

Der deutsche Fotograf Erwin Christian weilte Ende der Sechzigerjahre auf Einladung des Schweizer Uhrenfabrikanten Max Schneider («Nivada Grenchen») in Zermatt. Im Hotel entdeckte der Wahl-Polynesier aus Bora Bora eine Auswahl von hochqualitativen Ansichtskarten im Angebot, die ihn faszinierten: Made by Engadin Press! Zwei Tage später traf er den «Meisterdrucker» Herbert Haueter in Zürich und machte ihn zum Hoflieferanten seines Verlags in Papeete. Bald verliessen jährlich zwei bis drei Tonnen schwere Lieferungen mit farbenfrohen Südsee-Postkarten das schneereiche Engadin Richtung Polynesien, um kurze Zeit später von Bora Bora, Tahiti und Moorea aus die ganze Welt zu beglücken.

Was waren die Gründe, weshalb Erwin Christian seine Bücher und Karten lieber in der viel teureren und über 16000 km entfernten Schweiz statt in Französisch-Polynesien herstellen liess? «Die hohe Qualität und die gute Zusammenarbeit mit Herbert Haueter», sagt der heute 84-jährige Fotograf und gelernte Hotelier Christian am Telefon.

Zustellung dauerte Wochen

Der Weltbürger aus Schlesien, der seit 1962 in Polynesien, auf îles Sous-le-Vent lebt, besuchte 1972 mit seiner Familie die Engadin Press und hielt das Treffen mit einer professionellen Schweizer Sinar 5x7-Analogkamera, die der Schaffhauser Fotograf Carl Hans Koch 1948 erfand, fest. Eine Gegeneinladung erwiderten die Haueters mit Begeisterung und besuchten 1975 Bora Bora im Südpazifik.

Seit Ende der Sechzigerjahre liess Erwin Christian unter anderem vier Bildbände über die Insel Tahiti und über 500 verschiedene Postkarten mit Südseemotiven für seinen Verlag «Kea Éditions» im Engadin drucken. Beispielsweise sein Fotobuch «Marquesas, Images from the Land of Men». Der grösste Bildband «Tahiti und seine Inseln» wurde in drei Auflagen gedruckt. Christians Fotoband «Island of Tahiti» mit 265 farbigen Abbildungen ist in einer Erstauflage von 3000 Exemplaren erschienen. Die Lithos stellte das Meraner Reprostudio in Südtirol (Italien) her.

Von den Ansichtskarten liess er oft bis zu 10000 Exemplare drucken. Fotosendungen, Korrespondenz oder das Gut zum Druck mussten per Luftpost zugestellt werden. Faxgeräte kamen bei uns erst Ende der Achtzigerjahre auf. Die fertigen, einige Tonnen schweren Drucksachen – «Imprimé en Suisse par Engadin Press» – gingen per Camion und Schiff nach Papeete und Polynésie française. Das konnte Wochen dauern. Heute, in Zeiten von Internet und E-Mail, kaum vorstellbar.

Die damalige Schweizer Speditionsfirma Danzas organisierte den Transport je nach Kapazität via Hamburg, Rotterdam, Marseille oder Genua. «Die Drucksachen waren teuer, aber den Preis wert. Ich hatte einen wahnsinnigen Erfolg damit», sagt Christian.

Was war das Besondere an diesem Unternehmen in den Schweizer Bergen mit internationaler Ausstrahlung? «Ein richtiger Vertrag mit der Engadin Press existierte nicht. Es gab einfach einen Handschlag und das war ein Ehrenwort zwischen Herbert Haueter und mir», erzählt Erwin Christian. In der ganzen Zeit habe es kaum Probleme gegeben. «Wenn es doch mal ein Solches gab, haben wir es einfach ausgebügelt – das war das Schöne! Und wenn mir mal etwas nicht gefiel, dann hatten die Fachleute das problemlos verändert.»

Anfänglich, so erinnert sich Christian, stimmte für ihn die Farbe des Himmels wie auf dem Kodak Ektachrome-Dia, nicht mit dem Andruck überein. «Herbert meinte, so einen Himmel gäbe es gar nicht. Er kam dann mal nach Bora Bora und sah, wie der Himmel wirklich ist! Er hat sich dann gleich ein wenig in die Südsee verliebt und kam später einige Male zu uns», erinnert sich Erwin Christian.

«Wie bei einer heiligen Messe …»

Jedes Mal, wenn eines seiner vier Bücher gedruckt wurde, kam Erwin Christian persönlich nach Samedan. «Es war eine echte Zeremonie: Wie bei einer heiligen Messe in einem katholischen Gottesdienst standen die Setzer und Drucker da. Dann kam der ‘Papst’, also Herbert, mit einem Thermometer in der Hand, schaute, wie viel Grad es im Drucksaal exakt hatte, und stimmte sogleich die Luftfeuchtigkeit ab. Erst dann konnte es losgehen.»

Die Druckmaschine wurde gestartet und anschliessend der 100. Druckbogen nochmals herausgeholt und akribisch genau geprüft. Christian: «Ein bis zwei Mal stimmte etwas mit dem Grünton nicht. Wir gingen ins Freie, wo es furchtbar kalt war, aber bei natürlichem Licht konnte es anders beurteilt werden. Im allerletzten Moment hatten wir die Farbe noch korrigiert. So lief das ab in der Engadin Press!» Alles befand sich quasi unter einem Dach: Buch- und Offsetdruck, Buchbinderei, Redaktion, Buchhandlung, Papeterie, Foto und Ansichtskartenverlag.

Suche nach Tier- und Pflanzenbildern

Die Engadin Press suchte permanent herausragende Tier- und Pflanzenaufnahmen für ihr grosses und ständig erweitertes Kartensortiment sowie für ihre erfolgreiche Kalenderproduktion. Herbert Haueter wurde durch Veröffentlichungen unter anderem im «Stern» und dem «National Geographic Magazin» auf den deutschen Hans Reinhard aufmerksam, der sich weltweit auf Tier- und Pflanzenfotografie spezialisierte. 1969 besuchte Haueter erstmals den Fotografen in seinem Dorf Heiligkreuzsteinach bei Heidelberg und bot ihm ein Fixum respektive eine Teilanstellung an. «Herbert bot uns pro gedruckter Postkarte einen Rappen, für die grösseren Bildkarten 1,5 Rappen an, das war damals für uns der gute und ausschlaggebende Start in die Selbstständigkeit. Es wurden von uns bald sehr viele Bilder in Samedan gedruckt, schätzungsweise 1000 Motive. Bei den Postkarten gab es schon Auflagen von circa 200000 Stück, manchmal mehr», erinnert sich der Fotograf und gelernte Werkzeugmacher Reinhard. Er hatte dem Engadiner Unternehmen immer das neueste Material exklusiv vorgelegt.

Zu Tieraufnahmen kamen auch Pflanzenfotos dazu. Hans Reinhard, heute 78-jährig, hatte bis 1974 als Fotograf in der Orthopädischen Klinik Heidelberg gearbeitet und fotografiert heute noch mit seiner Hasselblad analog. Das Archiv umfasst über eine Million Aufnahmen und die Digitalisierung ihres Bestandes sei bald abgeschlossen.

Was schätzte Hans Reinhard am Engadiner «Meisterdrucker»? «Herbert Haueter hatte ein besonderes Auge für gute Tierbilder. Ausserdem besass er unglaubliches Fachwissen, Farbgefühl sowie Farbkenntnis. Er wusste, worauf es ankommt, und kannte sich im Druckwesen aus. Er war ein Perfektionist! Qualität war sein absolutes Markenzeichen. Die Klischees für das Hochdruckverfahren mussten tadellos sein.»

Um Weihnachten 1971 reisten Reinhard und Haueter erstmals nach Ost-afrika. Die vierwöchige Fotosafari im Land Rover führte sie nach Kenia und Tansania. Später gingen sie auch ins Rhône-Delta, um die dort noch wild lebenden weissen Camargue-Pferde in Südfrankreich zu fotografieren. Es gab reiche «Beute» für neue Ansichtskarten.

«Eine ausgezeichnete Geste»

Der deutsche Fotograf und Biologe Gerhard Kalden, Jahrgang 1935, aus Frankenberg veröffentlichte ebenfalls Naturaufnahmen im Engadiner Verlag. Er erinnert sich: «Da ich noch vor Antritt des Urlaubs 1975 in Samedan erfahren hatte, dass Herbert Haueter der Geschäftsführer von dem mir durch hervorragende Fotos bekannt gewordenen Engadin Press war, habe ich gleich eine Auswahl von Dias von Alpenblumen mitgenommen und ihm vorgelegt.» Daraufhin hatte er Kalden in den Verlag eingeladen und persönlich durch den Verlag geführt – «eine ausgezeichnete Geste». Sein Nachfolger hat dagegen Gespräche mit ihm «in aller Freundlichkeit», aber eher im Flur geführt. «Nach dem ersten sehr positiven Kontakt mit Direktor Haueter konnte ich immer wieder Fotos im bekannten Kalender ‘DU-Almanach’ unterbringen. Insgesamt etwa 50 Aufnahmen. Haueters waren sehr zugewandte, nette Menschen», sagt Gerhard Kalden

«Er war wie ein Vater zu mir»

Ende 1963 kamen 35 tibetische Flüchtlinge durch das Rote Kreuz nach langer Reise in Samedan an. Darunter auch Thubten Lobsang, Jahrgang 1938. Er fand eine Anstellung in der Buchbinderei der Engadin Press. Ausser «ein bisschen Papier schöpfen» in Tibet hatte er keine Ausbildung. «Direktor Haueter war warmherzig zu armen Menschen. Er war wie ein Vater zu mir und suchte mit mir gemeinsam sogar eine Wohnung für mich und meine Familie. Später bekam ich die Möglichkeit, Abteilungsleiter der Buchbinderei zu werden. Herr Haueter hat die Firma wirklich gross gemacht», lobt Lobsang (81), der heute in Richterswil am Zürichsee lebt. Auch seine Frau Soyang (75) fand mit anderen Tibetern in der Engadin Press damals Arbeit und Auskommen.

«Er hatte ein perfektes Auge»

Ulrich Bachmann wurde 1967 – frisch von der Buchdruckerlehre aus Bern kommend – von Geschäftsführer Herbert Haueter angestellt. Die jeweils neun Drucker der Engadin Press, mehrheitlich aus dem Unterland oder sogar aus Deutschland kommend, wechselten damals nach ein- bis eineinhalb Jahren wieder die Stelle. Warum? Den Vierfarbendruck zu erleben, war damals für viele junge Drucker ein Ziel. «Anfänglich eine Herausforderung, wurde der Ansichtskartendruck zur Routine, weiter war es nicht jedermanns Sache, sich im damals noch eher abgelegenen Bergtal niederzulassen. Ich bin länger geblieben und hatte dadurch später das Glück, an der neuen Zweifarben-Bogenoffsetdruckmaschine ausgebildet zu werden», erzählt Ulrich Bachmann (73), der 41 Jahre bei der Engadin Press tätig war.

Unter Haueters Regie habe sich die Engadin Press auf den Druck farbiger Ansichtskarten und Hotelprospekte spezialisiert. Bachmann: «Für mich bedeutete der Vierfarbendruck Neuland und interessante Arbeit. Als Druckmaschinen dienten uns die damals berühmten ‘Original Heidelberger Zylinder’. In dieser Zeit hatte Direktor Haueter einen Eigenverlag für Ansichts- und Glückwunschkarten aufgebaut. Die Vorteile waren grösserer Erlös, kein Zwischenhandel und die Karten konnten gedruckt werden, wenn wenig andere Arbeit vorhanden war.»

Recht spät, Anfang der Siebzigerjahre, hat sich Haueter zum Wechsel ins neue Offsetdruckverfahren entschieden. «Er wollte sicher sein, dass wir die Qualität vom Buchdruck halten konnten. Das ist gelungen und er erweiterte den Verlag mit prächtigen Tier- und Landschaftskalendern. Es folgten erfolgreiche Jahre vor allem dank Haueters Fachwissen und seiner Fähigkeit, Lithos (Bilder) farblich und im Ausdruck zu korrigieren», erinnert sich Bachmann. Auch wollte er vor dem Auflagendruck immer einen Abzug sehen. «Er hatte ein perfektes Auge für die Farbgebung. Man konnte ja damals die Farbdichte noch nicht messen! Das gab uns Druckern auch Sicherheit», berichtet Bachmann weiter. «Hie und da erfuhren wir auf Umwegen, dass er auf seine Drucker stolz war – was auf Gegenseitigkeit beruhte.»

In der «Schweizer Illustrierten» erschien 1980 ein Bericht über den initiativen Direktor im Engadin mit einem Bild, wie er im Schneegestöber vor seinem Betrieb steht. So wurde die Engadin Press auch im Unterland bekannt. Auf dem Höhepunkt der Engadin Press druckte man beispielsweise Ansichtskarten und Kalender für einen Verlag in Norwegen, Ansichtskarten und Bücher für einen Verleger und Fotografen in Tahiti und Bora Bora! Vor seiner Pensionierung leitete Herbert Haueter Ende der Achtzigerjahre die Anschaffung einer Vierfarben-Offsetmaschine für den geplanten Neubau in Cho d’Punt ein. Wiederum wartete Haueter zu, bis er sicher war, die Brillanz vom Zweifarben- auch im Vierfarben-Offsetdruck zu erreichen. Nach Haueters Pensionierung 1984 leitete Fred Plattner für kurze Zeit die Firma. Später übernahm ein Mitglied der Familie Pulfer, Georg Caviezel, die Führung. Gleichzeitig wurde der Preiskampf in der grafischen Branche immer härter.

Auch machten sich die Nachteile der langen Transportwege immer mehr bemerkbar. 2001 verkaufte Georg Caviezel, mittlerweile Mehrheitsaktionär, die Engadin Press an die damalige Südostschweiz-Mediengruppe, heute Somedia, nach Chur. «Die Hoffnung, dass wir durch die neuen Besitzer grössere Absatzmöglichkeiten erhalten würden, war eine Illusion. Der Betrieb hatte am Schluss weniger als 28 Angestellte, wurde heruntergefahren und 2008 geschlossen. Für mich drei Jahre zu früh», sagt Ulrich Bachmann, 1946 in Wichtrach (Bern) geboren. «Ich habe die Zeit unter anderem an einer Aushilfsstelle in Davos überbrückt und bezog die AHV früher.»

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Ereignisse MEHR