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Der unbequeme Militärberater und Hiroshima-Zeuge

Im zweiten Weltkrieg ist der Glarner Physiker Fritz Zwicky von der amerikanischen Armee als wissenschaftlicher Berater engagiert worden. Sie schickte ihn als Gutachter in die von der Atombombe zerstörten Städte Hiroshima und Nagasaki. Sein Gutachten war gefragt, aber seine kritische Stimme nicht.

Südostschweiz
10.06.18 - 04:30 Uhr
Ereignisse

von Swantje Kammerecker

Die aktuelle Fritz-Zwicky-Ausstellung im Ortmuseums Mollis zeigt in einer der Vitrinen nicht nur Fotodokumente, sondern auch Tempeltrümmer aus Hiroshima, die Fritz Zwicky 1945 von dort mitgebracht hatte: Es sind Steine mit Schriftzeichen und ein ornamental geschnitztes Holzstück, dessen Alter einige Jahrhunderte betragen mag.

Die japanische Stadt wurde am 6. August 1945 um 8.15 Uhr Ortszeit Opfer des weltweit ersten kriegerischen Atombombenabwurfs, ausgelöst durch den Luftangriff des US Bombers «Enola Gay»: Die Explosion der «Little Boy» genannten Nuklearwaffe (Sprengkraft 12 500 Tonnen TNT) in 600 Metern Höhe zerstörte etwa 80 Prozent der Stadt, 90 000 Menschen starben sofort, weitere 90 000 bis 166 000 an den Spätfolgen.

Wieso kam Fritz Zwicky in militärischer Mission ins Land der aufgehenden Sonne? Der Physik-Professor vom California Institute of Technology (Caltech), eine private Eliteuniversität in Los Angeles, war bereits im Frühling 1945 im Auftrag der US Army nach Europa gereist. Während des mehrmonatigen Aufenthalts studierte er Militäreinrichtungen und machte sich mit der Erkundung der deutschen Raketentechnik einen Namen.

Nicht nur Schadenserfassung

Sein Vorgesetzter General H. H. Arnold schickte ihn daraufhin nach Japan, um die Verheerungen des Nuklearschlags zu dokumentieren. Zwicky kommentierte später: «Keiner von den grossen Menschenfreunden, welche für den Abwurf der Atombombe gestimmt hatten, das heisst A. H. Compton, J. R. Oppenheimer, E. Fermi oder E. O. Lawrence ging nach Hiroshima um zu sehen, was sie angerichtet hatten.» Er meinte damit seine Physiker-Kollegen, von deren politischem Opportunismus Zwicky nicht viel hielt.

Seine Aufgabe war es, nebst der Schadenserfassung, Vorschläge zum Schutz vor feindlichen Atombombenangriffen zu erarbeiten; denn mit solchen rechneten die USA offenbar nach diesem «von (der) eigenen Regierung inszenierten idiotischen Präzedenzfall». In der Funktion eines Scientific Consultant, also als wissenschaftlicher Berater, und in Uniform eines Ehrenoffiziers reiste Zwicky im Oktober 1945 nach Japan.

Der von ihm verfasste Bericht wurde als Geheimsache archiviert – auch in seinem Nachlass, welcher von der in Glarus ansässigen Fritz-Zwicky-Stiftung verwaltet wird, ist bis heute keine Kopie vorhanden. Erhalten ist nur ein Dankesschreiben des Heerführers Arnold an Zwicky für seine wertvollen Dienste. Dieser jedoch ärgerte sich, dass man offenbar seine Vorschläge zum Schutz der Zivilbevölkerung vor der Atomgefahr schubladisierte.

Die amerikanischen Politiker und Militärs, samt der ihnen genehmen Forscher, wähnten sich der übrigen Welt gegenüber weit überlegen und trauten den konkurrierenden Russen erst ab 1955 den Bau der Atombombe zu – wohingegen Zwicky und sein Kollege Irving Langmuir meinten, es werde bereits in drei Jahren soweit sein.

Diese «ketzerische Äusserung» veranlasste Oppenheimer zu einem Wutausbruch, und Zwicky liess als weiteren Experten den Schweizer Kernphysiker Professor Paul Scherrer einfliegen. Man führte Scherrer als vorgeblich amerikanischen Staatsbürger namens Shearer durchs Atom-Testgelände in Los Alamos in den USA und an weitere Orte, und es zeigte sich, dass er Zwickys Einschätzung teilte. Ohne Scherrers Eingreifen, so Zwicky, hätten die Amerikaner wohl nicht mit der Herstellung von Geräten begonnen, welche die Auswirkungen entfernter radioaktiver Detonationen erfassen konnten. Im August 1949 war es so weit: In der Sowjetunion wurde die erste Nuklearrakete abgefeuert.

Kein Gehör für Zwicky

Der zweite Weltkrieg mit den irrsinnigen Verwüstungen und 55 Millionen Toten hatte zwar mit der Kapitulation Japans ein Ende gefunden, aber der Kalte Krieg folgte und die damit verbundene Unterwanderungsparanoia in den USA erschwerten auch die Arbeit Zwickys zunehmend. Als militärischer Berater war der brillante Wissenschaftler zwar gefragt, aber seine kritisch-ehrlichen Einschätzungen wollte man nicht hören.

Bald war er, der sich in bester Schweizer Tradition als neutraler Agent und Anwalt einer friedlichen Weiterentwicklung der Welt sah, dem Verdacht des Paktierens mit den Kommunisten ausgesetzt. Als er sich weigerte, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde der Firma Aerojet, wo Zwicky Forschungsdirektor war, angedroht, sie werde keine Aufträge der Regierung mehr erhalten. Paradoxerweise aber wurde Zwicky im September 1949 als erstem Ausländer die Freiheitsmedaille des Präsidenten verliehen – dies in Anwesenheit des hochrangigen Militärs General Thomas C. Chapman von der US Air Force.

Beschattung bis auf die Toilette

Dem Übereifer der Staatssicherheit war es auch geschuldet, dass dem Glarner Forscher 1955, wie auch anderen nicht einbürgerungswilligen Aussenseitern, die sogenannte Security Clearance entzogen wurde, sprich der Zugang zu geheimen Projekten. Man überwachte ihn sogar beim Gang zur Toilette und schloss die Kästen und den Schreibtisch in seinem Büro ab, sodass ihm der Zugriff zu den eigenen Forschungsunterlagen verwehrt war.

Durch den Clearance-Entzug kam auch eine Pionierarbeit Zwickys für die Navy zum Erliegen: Er tüftelte an einem Frühwarnsystem für Flugzeuge und Raketen, das Himmelsaufnahmen von Teleskopen per Computer auswerten sollte.

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