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Quietschende Reifen in der Dunkelheit

Täglich treffen sich Jugendliche am Ufer der Wolga. Nicht Alkohol, Wasserpfeifen und Diskussionen sind der Grund für das Zusammenkommen, sondern Donuts Drift. Eigentlich verboten, in Toljatti geduldet.

22.06.18 - 04:30 Uhr
Fussball
Laute Motoren und quietschende Reifen: Toljattis Jugend trifft sich am Abend an der Wolga.
Laute Motoren und quietschende Reifen: Toljattis Jugend trifft sich am Abend an der Wolga.

Die Jugend in der Autostadt Toljatti hat es nicht einfach. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Viele sind, abgesehen von Sozialrubeln aus der Staatskasse, ohne Einkommen. Glück hat, wer einen Studienplatz zugeteilt bekommen hat. Das ist aber die Minderheit. Entsprechend unzufrieden sind viele. Für Präsident Wladimir Putin und die Regierung haben sie keine lobenden Worte übrig. Auch die Fussball-Weltmeisterschaft betrachten sie wegen dem Kommerz mit kritischen Augen. Am Ende werde Russland weniger haben als vor der Endrunde, kritisieren sie. Darum boykottieren sie den World Cup – bewusst. Ein stiller Protest.

Drehen um die eigene Achse

Jeden Abend treffen sie sich, geschützt von der Dunkelheit, unweit der Wolga. Dutzende Autos sind rund um den asphaltierten Platz aufgestellt. Bekannte Marken wie BMW, Nissan und Audi sieht man. Meist ältere Modalle. Aber auch Schigulis sind dabei. Sie sind der Stolz der Stadt, der Jungen. Die Automobilfabrik Awtowas stellt sie in Toljatti zwar noch immer her, unter dem Namen Lada. Glücklich macht das niemanden. Tausende hatten früher in den Wolga-Autowerken ihre Arbeitsstelle. Nachdem Renault-Nissan 2012 das Sagen übernommen hat, wurde modernisiert und viele Russen wurden arbeitslos. Besonders hart trifft das die Jugend. Sie sieht in Toljatti kaum eine Zukunft.

Die Jugendlichen sitzen in ihren Wagen, liegen in geöffneten Kofferräumen. Sie ziehen an Wasserpfeifen, trinken Billigbier aus Plastikflaschen und unterhalten sich. Immer dann, wenn Reifen zu quietschen, richten sich ihre Blicke zur Platzmitte. Donuts Drift heisst das, was hier zelebriert wird. Autos drehen sich in kleinem Radius um die eigene Achse – immer wieder. Es ist ein Wettbewerb, aber ohne eine Sieger. Wer den Motor heulen und die Reifen besonders laut quietschen lässt, erhält Lob. Mehr nicht. Dazu gibt es ohrenbetäubende Musik aus einem der parkierten Fahrzeuge. Viele sind mit leistungsstarken Soundanlagen ausgerüstet. Ganz nach dem Motto: Je lauter, desto besser.

Quietschende Reifen und heulende Motoren

Einige Stunden Ablenkung

Männlein und Weiblein sind in etwa gleicher Anzahl versammelt. Man kennt sich, versteht sich. Hier wird die gleiche Sprache gesprochen. Das Ganze hat etwas Rebellisches. Offiziell erlaubt ist Donuts Drift nicht. Die Polizei taucht allerdings kaum einmal auf, lässt die Jungen in der Dunkelheit gewähren. Sie werden geduldet, beinahe wie im richtigen Leben. Eine Perspektive hat kaum jemanden hier. In eine andere Stadt oder sogar ins Ausland zu gehen, scheint kaum eine Option. Nur wenige beherrschen auch nur einige Worte Englisch. Die Mehrheit spricht nur in der Landessprache, hat trotz Ausbildung eine wenig rosige Zukunft. Da ist Donuts Drift das Richtige. Zumindest für einige Stunden lenken quietschende Reifen, Musik und Gespräche unter Gleichdenkenden von den Alltagssorgen ab.

René Weber ist Leiter Sport Online/Zeitung. Er führt die Online- und Printredaktion der Zeitungen «Südostschweiz» und «Bündner Tagblatt» sowie des Portals «suedostschweiz.ch». René Weber arbeitet seit dem Jahr 2000 für die Medienfamilie Südostschweiz. Er hat in dieser Zeit von Grossanlässen wie Olympischen Spielen. Ski-Weltmeisterschaften und Fussball-Weltmeisterschaften, aber auch von Kantonalturn- und Schwingfesten, regionalen Eishockey- und Fussballspielen oder von Schützenversammlungen berichtet. Seit der Gründung gehört er der Organisation des Bündner Sportnacht an. Mehr Infos

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