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Merry Christmas

Christian
Ruch
22.12.18 - 09:04 Uhr
BILDMONTAGE: SUEDOSTSCHWEIZ.CH
BILDMONTAGE: SUEDOSTSCHWEIZ.CH

In «Ruchs Rubrik» beleuchtet Christian Ruch Bedenkliches, Merkwürdiges und Lustiges aus der Region Südostschweiz. Das alles einmal wöchentlich und mit viel Esprit und Humor. Ob Politik, Kultur, Wirtschaft oder Sport – in Ruchs Rubrik hat all das Platz, was sich mit einem Augenzwinkern betrachten lässt.

Der Präsident platzte schier vor Stolz. Er hatte es geschafft! Er hatte es allen gezeigt. Vor ihm eine riesige Menge begeisterter Anhänger, hinter ihm eine Mauer, die in den Nachthimmel ragte und von Scheinwerfern grell angestrahlt wurde. «Die Vereinigten Staaten von Amerika haben jetzt die schönste und beste Mauer, die die Welt je gesehen hat!» rief er ins Mikrofon und seine Anhänger jubelten.

Auf der anderen Seite der Mauer hatte ein junges Paar sein Nachtlager aufgeschlagen. Sie hiessen Maria und José und stammten aus Honduras. Von dort hatten sie fliehen müssen, weil Ramón Herodez, der lokale Clan-Chef des herrschenden Drogenkartells, begonnen hatte, alle neugeborenen Kinder umzubringen, sofern die Leute nicht Schutzgeld bezahlten. José und Maria aber waren arm. Also blieb ihnen mit ihrem neugeborenen Sohn Jesús nur die Flucht. Hier aber, auf der mexikanischen Seite dieser riesigen Mauer, ging es nun einfach nicht mehr weiter. Es war kalt und Maria presste den kleinen Jesús an ihren Körper, um ihn zu wärmen. José lief ein Stück die Mauer entlang, um zu sehen, ob es irgendwo einen Durchschlupf gab. Aber er fand keinen. «Und wenn wir einfach zum nächsten Grenzübergang gehen und um Einlass bitten?», fragte Maria. «Es ist doch ein christliches Land. Ständig reden sie von Gott. Früher haben sie doch auch immer viele Menschen aufgenommen, die aus Not ihre Heimat verlassen mussten.» – «Ich weiss nicht», sagte José und strich mit der Hand über den Beton der Mauer. Sie war unüberwindbar. «Ich glaube, die Zeiten haben sich geändert.» Sie schwiegen. Der Wind wehte immer wieder die Worte des Präsidenten über die Mauer. «Niemand wird mehr ins Land kommen, der uns Drogen und Verbrechen bringt», hörten Maria und José ihn sagen. «Aber wir bringen doch gar keine Drogen und Verbrechen», sagte Maria leise.

Der Präsident hatte seine Rede beendet. Er reckte den Daumen in die Höhe und winkte seinen Anhängern noch einmal zu. Dann rief er: «Gott segne die Vereinigten Staaten von Amerika! Frohe Weihnachten!»

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