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Die Parteien werden bald wegdigitalisiert werden

Andrea
Masüger
17.08.19 - 04:30 Uhr
PIXABAY
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In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Die Politik redet andauernd von der Notwendigkeit, in die Digitalisierung zu investieren. Überall werden Digitalisierungsoffensiven beschlossen, digitale Programme aufgelegt, und bei jeder Parlamentseröffnung steht der Gott Digital im Zentrum. Doch im Grunde genommen wissen die Politiker nicht so recht, worum es geht. Sie sind überfordert und ahnen bloss, dass es sich um ein grosses Thema handelt, an dem sie irgendwie partizipieren müssen.

Sie denken, dass sie selbst ungemein digital sind, wenn sie nutzlose Botschaften auf den sozialen Medien absetzen. Diese finden allenfalls in Parteikreisen Beachtung, verpuffen aber ansonsten weitgehend. Ein paar Provokateure wie der SVP-Nationalrat Glarner schaffen es damit ab und zu in die klassischen Medien, aber nach drei Tagen ist auch dieses Stürmchen vorbei.

Dabei fliegt den grossen Parteien die Digitalisierung bereits um die Ohren. Seit vier Jahren braucht es keine Partei mehr, um eine Volksinitiative zu lancieren oder eine Abstimmungskampage zu führen. Die Onlineplattform Wecollect erledigt dies viel schneller und mit bloss ein paar Mausklicks. Auf diese Weise kam es zum Referendum gegen die Versicherungsdetektive und zur Initiative gegen Waffenexporte. Auch das Thema der Stunde, die Gletscherinitiative, wird dank Wecollect viel effizienter unter die Leute gebracht, als dies früher möglich gewesen wäre.

Dies zeigt: Im etablierten Politbetrieb zeichnen sich grundlegende Veränderungen ab. Das übliche Parteienschema mit seinem Links-Rechts-Zirkus wird zunehmend hinterfragt. Es treten neue Akteure auf, die nicht mit Parteiprogrammen fuchteln, sondern übergeordnete gesellschaftliche Ziele haben. Die Operation Libero ist ein Zusammenschluss von Kandidatinnen und Kandidaten für die nationalen Wahlen vom Oktober, der mit Ausnahme der SVP alle Parteien umfasst. Was verbindet Sozialdemokraten, Freisinnige und Christdemokraten in einer solchen Organisation? Die gemeinsame Sorge über die europäische Zukunft der Schweiz beispielsweise. Oder die Einsicht, dass es beim Klimaschutz nicht nur bei Lippenbekenntnissen bleiben darf.

Noch besitzen die Mitglieder der Operation Libero ein Parteibuch. Doch dies könnte bald nicht mehr nötig sein. Man beginnt, jenseits der Parteien zu politisieren und sich quasi ad hoc zu Thema-Clustern zusammenzuschliessen. Parteien bilden für zu viele Leute ein zu enges Korsett. Sie nehmen eine Macht in Anspruch, die ihnen nicht zusteht, wie die Druckversuche auf das Bundesgericht im Zusammenhang mit dem unliebsamen UBS-Urteil zeigen. Parteipräsidenten werden behandelt wie Magistraten, dabei sind sie eigentlich nur Vereinsvorsitzende. Mit einem neuen Wahlgesetz, das die etablierten Parteien gegenüber neuen Gruppierungen bevorzugt, zementiert der Gesetzgeber diese Situation noch.

Doch das Neue wird sich durchsetzen. Dies zeigt auch der Politbetrieb der letzten vier Jahre. Ein Team von Datenjournalisten des Tamedia-Verlags hat das Abstimmungsverhalten der eidgenössischen Räte in der zu Ende gehenden Legislaturperiode analysiert. Die Schlüsse sind frappant. Der viel diskutierte Rechtsrutsch des Jahres 2015 hat in der Praxis nicht stattgefunden, die «Rechtsallianz» von SVP und FDP hat nicht einmal ein lausiges Prozent der Abstimmungen gewonnen. Vielmehr kam es zu grossen Koalitionen fast aller Parteien, 70 Prozent der Schlussabstimmungen im Nationalrat waren durch Rechts-Mitte-Links-Bündnisse bestimmt.

Die gegenwärtige Kandidatenschwemme für die National- und Ständeratswahlen vom Oktober bestätigt diesen Trend. Sie zeigt ein ungebrochenes, wenn nicht sogar zunehmendes Interesse an der Politik. Und die Rekordzahl an Listen deutet darauf hin, dass das bisherige Politschema als überkommen betrachtet wird. Man denkt mehr thematisch, nicht programmatisch. Die Digitalisierung mit ihren Möglichkeiten der vereinfachten und effizienten Organisation unterstützt diese Entwicklung und wird Parteien als Organisationsgefässe in Zukunft weitgehend überflüssig machen.

Die etablierten Politiker werden von der Digitalisierung eingeholt, noch bevor sie diese richtig verstanden haben.

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