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Ein Prosit auf die Schnapsidee

Hans Peter
Danuser
16.07.19 - 04:30 Uhr
BILDMONTAGE SO

Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Grosse Aufregung in der «Südostschweiz» Mitte Juni: Titelseite «Ein zweites Leben für den Julierturm», Seite 2 «Mehr Schnaps bitte» und Seite 3 «Neues Traumpaar im Albulatal». Zu Recht spricht Ruth Spitzenpfeil von einer Schnapsidee, den Julierturm 2020 ins Albulatal zu transferieren, statt schnöde zu verschrotten. Als sensibler Kulturredaktorin ist ihr der freche Gedanke aber durchaus einige Überlegungen wert, die ich mit ihre teile. Natürlich verstehe ich Giovanni Netzer, der im Turm auch ein Symbol für die Vergänglichkeit der Theaterkunst sieht, der entsprechend temporär sei und wieder verschwinde. Aber muss er denn gleich zerstört werden?

Als ich Netzer die Idee anlässlich einer Premiere beim Aperitif beiläufig skizzierte, waren Akzeptanz und Erfolg des Julierturms noch keineswegs gesichert. Heute ist er «das Lieblingsbauwerk der Kulturmenschen im Lande bis hinauf zu Bundesrat Alain Berset», wie Spitzenpfeil schreibt. Das ist doch grossartig, war doch auch Netzers Idee, auf dem Julierpass einen solchen Turm zu bauen und zu bespielen, ziemlich mit Schnaps versetzt, was man bei ihm natürlich etwas vorsichtiger sagt als bei einem Kurdirektor a. D. …. Heute ist der Julierturm europaweit bekannt und mit positiven Werten besetzt. Wenn sein Bau insgesamt zwei bis drei Millionen Franken gekostet hat, sind er und seine Marke, die er inzwischen geworden ist, ein Mehrfaches wert. Durch die Qualität der Origen-Anlässe in diesem einzigartigen Bauwerk und Umfeld 2284 m ü. M. auf einem alten Römerpass und Kraftort hat der Julierturm einen «emotionalen Mehrwert» gewonnen, der dem Kanton und allen Beteiligten nicht nur als sentimental Value in der Erinnerung erhalten bleiben sollte.

Das Gebäude hat die Baubewilligung einzig als Fahrnisbaute erhalten, die gesetzlich klar geregelt ist. Sie muss nächstes Jahr also weg, kann aber durchaus an einem anderen Standort wieder aufgebaut werden, falls eine entsprechende Baubewilligung vorliegt. Eine Kombination dieses Turm-Mythos mit dem spektakulären Landwasser-Viadukt im oder beim UNESCO Welterbe Perimeter der RhB macht in mancher Hinsicht Sinn, nicht nur architektonisch wegen all der Bogen im Turm und den beiden Bahnviadukten. Hier schlummert ein Synergiepotenzial an Angebots- und Imagewerten, die Kanton und RhB sehr sorgfältig und rasch prüfen sollten, bevor die Abbruchfrist auf dem Julier abläuft!

Denn Fahrnisbauten können – was in ihrer Bezeichnung mitschwingt – durchaus auch touristischen Reiz entwickeln. Und da habe ich als ehemaliger Kurdirektor mit Mikro-Budgets einschlägige Erfahrung gesammelt. Zum Beispiel mit der Heidihütte auf Salastrains: Baujähr 1791 im Bergell, 1977 Transfer nach Albanas oberhalb Champfèr zwecks Verfilmung der Heidigeschichte als 26-teilige TV-Serie. 1979 Transfer nach Salastrains West auf 2000 m ü.M., ca. 2002 Transfer nach Salastrains Ost. Heute beliebte Picknickhütte für Familien.

Oder das Zelt für die Poloponies am Januar 1985 auf dem St. Moritzersee und seither – zusammen mit gut 50 weiteren Zelten – jeden Januar. Die Tierärzte verlangten das Zelt für die verschwitzten Polopferde. Da kam die Idee, wieso eigentlich nicht auch Zelte für das Publikum zu errichten.

Leute in den Hochalpen stehen Fahrnisbauten pragmatischer und entspannter gegenüber als ihre Mitbürger in tieferen Lagen. Das Engadin erlebt jedes Jahr zwei komplett verschiedene Welten: die weisse mit gefrorenen Seen, bestgepflegten Loipen und Pisten, Eiskanälen etc. und den Sommer, den es den Gästen möglichst naturnah und unverbaut präsentieren möchte. Also sind «Fahrnisbauten» wie Bob- und Cresta-Bahnen in Natureis sei über 100 Jahren für Bevölkerung, Gäste und Behörden ganz normal.

 

Tags: Julierturm, touristische Fahrnisbauten, Landwasser-Viadukt

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