×

Ein Amerikaner in Bondo

Hans Peter
Danuser
03.10.17 - 01:00 Uhr
«Werden» von Giovanni Segantini.
«Werden» von Giovanni Segantini.
WIKIMEDIA COMMONS

Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Fast zeitgleich ereigneten sich Ende August die Naturkatastrophen in Houston Texas (Wirbelsturm Irma) und in Bondo im Bergell (Bergsturz und Murgänge des Piz Cengalo). Ein guter Bekannter aus den USA zu Besuch im Engadin kommentierte dazu, dass Bondo ausserhalb der Schweiz niemand kenne und das Ausmass der Schäden im Vergleich mit denen in Houston in keinem Vergleich stehen würde. Ich lud ihn daraufhin auf einen Besuch im Bergell ein.

Vor «Bossa Donna» warteten wir eine Weile im Stau und schauten zu, wie ein schmaler russischer Helikopter ein Auto nach dem anderen aus Bondo auf die Parkplätze oberhalb des gesperrten Tunnels rüberflog. Unterhalb von Promotogno staunten wir, wie viele Bagger und Baumschienen emsig und offenbar nach Plan die Schuttmassen bearbeiteten, um die Umfahrungstrasse freizulegen. Für meinen amerikanischen Gast war das natürlich alles «micro», halt typisch Schweiz. Ich erklärte ihm, dass die hiesige Katastrophe viel schlimmer hätte ausfallen können, wenn die vorbeugenden Massnahmen (Dämme, Auffangbecken, …), Vorwarn- und Alarmsysteme, das Krisenmanagement und die professionelle Kommunikation nicht so rasch und gut funktioniert hätten. Zwar gab es acht tote Touristen, aber keine Verschütteten oder Verletzten unter der Dorfbevölkerung.

Und in Sachen Bekanntheit braucht das Bergell in kultivierten Kreisen einen Vergleich mit Houston keineswegs zu scheuen. Es ist das Tal der Künstlerfamilie Giacometti – der auch die langjährige Gemeindepräsidentin Anna Giacometti entstammt. Alberto Giacometti ist heute im Bereich Skulpturen, was Picasso für die Malerei ist: Weltspitze und mit ihm auf Augenhöhe, auch was die in New York erzielten Auktionspreise für seine Werke betrifft. Und das ist noch nicht alles.

Wir fuhren nach Soglio, wo ich meinem Freund auf den Friedhof mitnahm – einen der schönst gelegenen, die ich kenne, ebenbürtig mit jenen in Morcote und Varenna. Es ist ein Kraftort erster Güte mit grandioser Aussicht auf Soglio, die Bondasca-Gruppe und den fatalen Piz Cengalo, dessen abrechende Nordflanke die Bondo-Katastrophe verursachte. Wenige hundert Meter vom Friedhof entfernt, rechts vom nördlichen Dorfende von Soglio, stellte Giovanni Segantini vor gut 120 Jahren seine riesige Staffelei auf und malte dort das wunderschöne erste Bild «Werden» seines berühmten Triptychons, das heute im St. Moritzer Segantini Museum hängt. Und mitten drin: exakt dieser Cengalo.

Mein Freund ist von Soglio und dem Bergell so angetan, dass er ohne Zweifel zurückkommen wird. Vorerst will er die Gräber der beiden Künstler in Borgonovo und Maloja besuchen, dann das Triptychon in St. Moritz aufsuchen und den aktuellen Giacometti-Film «Last Portrait», der zur Zeit in vielen Kinos im Unterland läuft, ansehen.

Ob gross oder kleinflächig: eine Naturkatastrophe bleibt für alle Betroffenen eine Desaster, mit viel Leid, Unsicherheit und Existenzangst. Kunst, Kultur, die Schönheit der unversehrten Natur und insbesondere die Solidarität der Mitmenschen können den Betroffenen helfen, mit ihren desolaten Situation zurechtzukommen und wieder Hoffnung zu schöpfen.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.