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Apokalypse am Berg

08.08.17 - 00:38 Uhr

Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Am Premierentag des Julierturms telefonierte ich mit einer Freundin in Pontresina. Wir sprachen darüber, dass man auch aus einer schlechten Situation das Beste rausholen und sich auf das Positive konzentrieren sollte. Das Gespräch wurde im Hintergrund von Sirenen vorbeifahrender Rettungsfahrzeuge unterbrochen. Meine Freundin meinte beiläufig, da müsse wohl Richtung Berninapass was passiert sein. Und dann verabredeten wir uns noch zum Abendessen und verabschiedeten uns.

Am Abend fuhren wir mit dem Postauto zum Julierpass hinauf und freuten uns auf die Premiere im neuen Turm des Origen Festivals.

Das 30 Meter hohe Gebäude ist eine Wucht. Nicht weil es einfach gross ist, nein, weil die Idee so genial ist: der Standort, die Architektur, das Innenleben, das Klima, die Akustik und Symbolik. Überhaupt auf einer Passhöhe von 2284 m ü.M. noch höher hinauszuwollen, ist schon ein kühnes Unterfangen.

Von Bivio kommend fährt man eine kurze Zeit direkt auf ihn zu. Er erhebt sich in ochsenblutroter Farbe auf dem Scheidepunkt zwischen Oberhalbstein und Engadin. Jetzt im Sommer, wo die Felsen grau und mit Flechten bewachsen in allen Farben schimmern, das Gras satt-grün ist, gliedert sich die Turmfarbe harmonisch ein. Im Winter wird der Turm in der weissen Schneelandschaft wie ein Leuchtturm oder Seezeichen den Reisenden Halt und Orientierung bieten.

Grosse Rundbogenöffnungen laden ein, hineinzugehen in den zehneckigen Thearterturm. Die Eingangshalle nimmt das ganze Erdgeschoss ein. Über ihr schwebt die Bühne. Wir wählen den Aufgang «Michael», der nach einem der vier Erzengel benannt ist, und steigen hinauf bis in den vierten Stock. Wir befinden uns direkt unter dem «Himmelsauge», wie Giovanni Netzer das kreisrunde Fenster des Dachs bezeichnet. Mich erinnert es an die Kuppelöffnung im Pantheon in Rom. Und überhaupt finde ich viele architektonische Elemente, die an spätantike-frühchristliche und byzantinische Zentralbauten in Rom und Ravenna erinnern. Mein Kopf hört auch später bei der Aufführung der Oper «Apokalypse» nicht auf, immer neue architektonische Zitate und Anspielungen zu entdecken. Ich denke auch an den Kuppelrundgang im Petersdom. Und dann vermischen sich die Bilder mit dem «Jüngsten Gericht» Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle.

Die grossen Fenster geben Ausblick auf die Passlandschaft. Wir sind begeistert, denn sie zeigen uns, den von den vielen Passfahrten vermeintlich vertrauten Ort aus ganz neuen Perspektiven. Sogar die historischen Festungswerke der Juliersperre entdecken wir im Fels jenseits der Strasse.

Die Zuschauer kommen in Theaterlogen rund um die mittige Bühne zum Sitzen. Wir nehmen in der ersten Etage auf Augenhöhe mit dem Bühnenboden Platz. Wie Theaternebel hüllt sich just zur Begrüssung und Einführung durch den Spiritus Rektor Giovanni Netzer der Turm in geheimnisvolle Nebelschwaden. Die Natur spielt mit – das Schauspiel hat begonnen. Und das ist genau das Ziel von diesem besonderen Theaterhaus. Der Ort ist bereits Teil des Programms, des Erlebnisses, der Message. Ein Ort der Transition, der Höhepunkt zwischen zwei Talfahrten, Wetterscheide, Sprachgrenze, Grenzraum, Zollstelle.

Architektonisch anspruchsvoll: Origens Theaterturm.
Architektonisch anspruchsvoll: Origens Theaterturm.

Und dass die Natur hier eine Protagonistenrolle übernimmt, spüren wir alle am eigenen Leib. Wir haben uns für diesen Abend warm angezogen und noch Jacken, Sitzkissen und sogar eine Decke mit dabei. Jetzt sitzen wir im Hemd und haben warm. Von Origen ist man ganz anderes gewohnt. Die Sonne hat tagsüber den Turm aufgeheizt, die grossen Fensterscheiben schützen vor der von uns befürchteten Zugluft.

Es ist also komfortabel, obwohl wir auf provisorischem Mobiliar sitzen. Ein bisschen Baustellen-Charakter hat es noch. Der Turm ist bespielbar, jedoch noch nicht in allen Details fertig – wie auch. Überhaupt, dass wir nun Anfang August bereits hier eine hochklassige Darbietung erleben können, grenzt an ein Wunder. Grünes Licht für den Bau, der vier Jahre stehen bleiben soll, bekam Origen erst in diesem Frühjahr, die Bauzeit war gerade mal zwei Monate. Bis Dezember werden die Zuschauerränge noch optimiert. Wir fühlen uns auch jetzt schon sehr wohl.

Die nächste Überraschung ist die Akustik. Wie in einem grossen Kirchenraum klingen die klaren Stimmen des Origen Ensembles unter Leitung von Clau Scherer. Wir hören das dreisprachige Stück «Apokalypse» von Gion Antoni Derungs. Die Geschichte vom Ende der Welt geht unter die Haut: das Wehklagen der werdenden Mutter, die Dreistigkeit des Drachens, die dralle Hure Babylon, die eigentlich für die Stadt Rom steht, die Brutalität und Grausamkeit, die Vernichtung und letztlich die Hoffnung auf einen Neuanfang. Und immer wieder der Ausblick auf die Passlandschaft, die mal in Nebel gehüllt, mal karg und schön daliegt. Unsere alltägliche Realität und das Bühnengeschehen überlappen sich. Die Lichtführung im Turm unterstreicht die verschiedenen Stimmungen, Bilder und Gefühle. Zum Ende wird der Blick nach oben geführt – zum Himmelsauge, das eingerahmt ist von einem grossen, aus Holzbalken bestehenden sechszackigen Davidstern oder Schutzstern. In seinen Zacken ist die Aufhängung der Bühne befestigt. Der Chor besingt das neue Jerusalem. Ein gewaltiges Gesamtkunstwerk!

Auf der Heimfahrt mit dem Postauto begleitet uns der fast volle Mond. Die Berge sind ihm ein tolle Kulisse.

Noch wirken die Eindrücke dieses Erlebnisses auf dem Julier nach, als ich am nächsten Morgen die Zeitung lese: «Tragisches Unglück. Bei einem Flugzeugabsturz auf Diavolezza sterben zwei 14-Jährige und der Pilot» titelt die «Südostschweiz». Mir läuft es eiskalt den Rücken runter und Tränen fliessen. Die Rettungsautos hatte ich ja durchs Telefon am anderen Tag gehört. Aber dass das Leid und der unermessliche Schmerz so nah und realistisch sein können, wird mir erst jetzt klar – und ich höre wieder die Wehklagen der Mutter, die Angst um ihr Kind hat.

Weitere Aufführungen der Oper «Apokalypse» noch bis 15. August 2017.
Der Turm kann in dieser Zeit täglich zwischen 10 bis 17 Uhr frei besichtigt werden.
www.origen.ch

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