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Metaphysisches Gruseln im Schnee

Musiker, Autor und Kolumnist Frédéric Zwicker über einen Ausflug nach Pigniu in der Surselva.

Linth-Zeitung
15.01.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Kolumnist Frédéric Zwicker über einen Stausee und eine sagenhafte Wildnis.
Kolumnist Frédéric Zwicker über einen Stausee und eine sagenhafte Wildnis.
PRESSEBILD

von Frédéric Zwicker

Als ich am Donnerstag abgeholt wurde, wusste ich nur, dass ich irgendwo in der Nähe von Ilanz ein paar Tage mit Freunden aus Schmerikon musizieren würde. Wo genau das Ferienhaus lag, in dem sie ihr Studio eingerichtet hatten, wusste ich nicht.

Es liegt in Pigniu in der Surselva. Dort hat es in den vergangenen Tagen so stark geschneit, dass Disentis wegen höchster Lawinengefahr vom Verkehr abgeschnitten wurde. Über das winzige Dörfchen Pigniu berichteten die Zeitungen aber schon vor zehn Jahren. Damals wurde es als das Dorf bekannt, in dem 100 Prozent der Stimmenden (neun Stimmberechtigte) Ja zur Minarett-Initiative gesagt hatten. In der Folge stieg die NZZ hinauf, um der Bevölkerung auf den Zahn zu fühlen.

In der Reportage wird erwähnt, dass die Bewohner von Pigniu dem «Lag da Pigniu» etwas zu verdanken haben. Hinter dem Dorf kommt nur noch dieser Stausee. Er sei der Grund, dass die Strasse nach Pigniu auch im Winter gepflügt werde. Der Pflug kam zwischen Donnerstag und Sonntag tatsächlich mehrmals täglich.

Als es einmal nicht geschneit hat, sind wir durch eine sagenhafte Wildnis, in der Tierspuren die einzigen Lebenszeichen waren, zum Stausee gestapft. Einmal hat das ganze Tal gedröhnt, als von einer Felswand eine Lawine den Wald hinunterging. Die Staumauer, die mit teils stehenden, teils liegenden Schachspiel-Bauern und Soldaten bemalt ist, wirkte wie eine Zivilisationsruine in einer postapokalyptischen Dystopie.

«Als der Fahrer ausstieg und auf mich zukam, erwartete ich prophetische Worte.»

Das Bild stammt vom Engadiner Künstler Martin Valär. Er hat das Sujet gewählt, um an das Jahr 1799 zu erinnern. Damals marschierte General Suworow mit seinen Soldaten auf dem Rückzug vor den Franzosen über den Panixerpass von Elm nach Pigniu. Mir wurde erstmals klar, wie nahe Glarnerland und Bündnerland beieinanderliegen.

Der Schnee fiel 1799 früh. Suworows dezimiertes, geschwächtes Heer plünderte deshalb ganz Pigniu. Das sei einer der Gründe für sein Ja zum Minarettverbot gewesen, wurde in der Reportage ein Bewohner Pignius zitiert. Man brauche keine fremden Machtsymbole. Man habe erst vor 210 Jahren eine fremde Macht gehabt.

Als ich am Donnerstag nach Pigniu hochfuhr, erinnerte ich mich nicht, den Namen schon einmal gehört zu haben. Als ich am Sonntag all diese Informationen zusammengetragen hatte, überkam mich ein metaphysisches Gruseln, wie es damals Mani Matter in seinem Lied Coiffeur zwischen zwei Spiegeln ergriffen hat. 1799, 2009, 2019; Suworow, der Islam, starker Schneefall und die direkte Demokratie – alles kam in Pigniu zusammen.

Als ich am Sonntag das Auto aus seiner meterdicken Schneeummantelung gegraben hatte, kam gerade der Pflug in Pigniu an. Als der Fahrer ausstieg und auf mich zukam, erkannte ich in ihm geradezu eine mythologische Gestalt und erwartete prophetische Worte. Er sagte: «Abfahra, aber schleunigscht! Sie behinderet d’Schneerüümig. Susch gits denn än Briaf.»

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