×

Ein Gespenst geht um

Frédéric Zwicker, Kolumnist der «Linth-Zeitung», über Unsitten, die sich im Tennis-Sport breit machen.

Linth-Zeitung
20.11.18 - 11:00 Uhr
Leben & Freizeit
Frédéric Zwicker, Autor, Musiker und «Linth-Zeitung»-Kolumnis, schreibt jede Woche über Themen, die ihn bewegen.
Frédéric Zwicker, Autor, Musiker und «Linth-Zeitung»-Kolumnis, schreibt jede Woche über Themen, die ihn bewegen.
PRESSEBILD

«Bis jetzt läufts ganz okay mit dir», sagte Sacha Zverev am Sonntag im Platzinterview zu Ivan Lendl. Lendl war vor drei Monaten als Coach zum Team Zverev gestossen, und jetzt hatte Sacha gerade den grössten Erfolg seiner bisherigen Karriere realisiert. Er hatte das Endspiel an den ATP Finals gegen die aktuelle Nummer eins, Novak Djokovic, gewonnen.

«Novak ist nicht nur ein grossartiger Spieler, sondern auch ein super Mensch. Er könnte jedes Turnier gewinnen. Ich bin ihm dankbar, dass er mit mir einen Titel teilt.» Sacha redete auch ausgiebig über seinen Vater, der vielleicht der beste Tennistrainer überhaupt sei, und dem er alles zu verdanken habe. Wahrscheinlich werde der noch bis im nächsten Jahr weinen. Er dürfe das sagen, weil der Vater nur die Hälfte verstehe, da er kaum Englisch spreche.

Es gäbe weitere Beispiele. Sachas Rede war eine improvisierte Comedy Show. Bissig und voller Selbstironie. Als Spieler fand ich ihn schon vorher interessant. Mit seinem Auftritt am Sonntag hat sich der 21-Jährige nun meine uneingeschränkte Unterstützung für seinen Weg zur Nummer eins der kommenden Jahre gesichert.

«Regeltreue, Anstand und Moral gehören nicht mehr zum Anforderungsprofil für Kandidaten.»

Als alter Fan komme ich ins Schwärmen. Eigentlich geht es aber um eine Szene im Halbfinal gegen Federer am Samstag. Im Tiebreak des zweiten Satzes unterbrach Zverev plötzlich und scheinbar grundlos das Spiel. Viele Zuschauer buhten. Zverev sagte, ein Balljunge habe einen Ball fallen gelassen. Und tatsächlich zeigte die Wiederholung, wie der Ball dem Jungen aus der Hand sprang und er ihm nachrannte. Der Punkt musste wiederholt werden, Zverev schlug ein Ass und gewann anschliessend das Spiel.

Beim Platzinterview wurde wieder gebuht und gepfiffen. Die Interviewerin bat die Menge um Respekt. Die Regeln schrieben vor, das Spiel müsse in so einem Fall unterbrochen werden. Zverev habe sich sportlich verhalten, die Pfiffe seien hingegen unfair. Zverev entschuldigte sich beim Publikum für etwas, wofür er sich nicht entschuldigen musste, und manche buhten und pfiffen immer noch.

Vom Fussball erwarte ich nicht mehr viel. Die Auswüchse der letzten Jahre haben mir die Freude am Sport schon länger verdorben. Ein bisschen unglücklich war es trotzdem, dass ich meinen Fifa- und Uefa-Boykott, den ich mir nach den jüngsten Enthüllungen zu Gianni Infantino und dem systematischen Beschiss im Fussballgeschäft vorgenommen hatte, ausgerechnet am Sonntag startete. Mein erstes boykottiertes Spiel war das historische 5:2 gegen Belgien.

Aber Tennis? «Ein Sieg von Roger ist uns wichtiger als die Regeln des Spiels», liess am Samstag ein Teil des Publikums verlauten. Die Szenen waren durchwoben vom politischen Gespenst, das in vielen Ländern umgeht. Regeltreue, Anstand und Moral gehören nicht mehr zum Anforderungsprofil für Kandidaten. Ich denke, wenn das so weitergeht, sind brutale Golf-Hooligan-Zusammenstösse nur eine Frage der Zeit.

Kontaktieren Sie unseren Autor zum Thema: redaktion@linthzeitung.ch

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR