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Missbrauch: Die Qualen eines Opfers

Horrortrip statt Heilung, so beschreibt eine Frau eine Behandlung bei einem nebenberuflichen Glarner Heiler. Laut Anklage vor Kantonsgericht ist sie eines von drei Opfern, welche trotz Schamgefühlen Anzeige erstattet haben.

Südostschweiz
24.03.18 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Unheil: Hände sollten heilen, Opfer sehen das anders.
Unheil: Hände sollten heilen, Opfer sehen das anders.
SYMBOLBILD SASI SUBRAMANIAM

Es war der grösste Horror, den man als Frau erleben kann, und das mehr als eine Stunde lang. Was der Mann an mir machte, tat unheimlich weh, und es hat meine Schmerzen nur noch vergrössert.

Was Petra Leis* schildert, geht auf den April 2012 zurück. Sie kommt hier zu Wort zu einem Gerichtsverfahren gegen einen nebenberuflichen Glarner Heiler, in dem sie als Opfer beteiligt ist.

Seit jenem Karfreitag habe ich täglich mit einem Trauma zu kämpfen, ich bin massiv in meinem Leben eingeschränkt. Und die Verletzungen sind fast nicht zu verarbeiten, solange nicht einmal das Verfahren abgeschlossen ist.

Sich wehren braucht viel Kraft

Das Verfahren dauert nun bereits seit sechs Jahren, im Januar 2018 war die Hauptverhandlung, doch das Urteil ist noch nicht gesprochen. Die Psychotherapeutin von Petra Leis sagt dazu: «Es ist extrem schwierig, psychische Störungen nach einem solchen Trauma zu verarbeiten.» Dass das Verfahren so unglaublich lange dauert, «ist auch aus therapeutischer Sicht eine riesige Belastung». Denn so lange bestehe die Chance nicht, den Schmerz zu verarbeiten, Gerechtigkeit zu finden, sich nicht länger ausgeliefert zu fühlen.

Was wir drei Frauen dem Kantonsgericht in einer Befragung der drei Opfer im Herbst 2016 geschildert haben, ist weit schlimmer als die Zusammenfassung, welche die «Südostschweiz» gab. Der Bericht ist für mich ein Schlag ins Gesicht. Er stellt viel zu harmlos dar, was mir auf grauenhafte Weise widerfahren ist.

Es hat mich viel Überwindung gekostet, mich zu wehren. Hätte ich mich ein paar Tage später in meiner unerträglichen Seelenqual nicht einem Arzt anvertraut, wäre ich auch nie zur Opferhilfe gekommen. Und dieser Mann wäre einfach so davongekommen. Dass drei Jahre nach meiner Anzeige von 2012 noch ein weiteres Opfer betroffen ist, macht mir zu schaffen.

In die Falle gegangen

Petra Leis hat damals ihre Erlebnisse niedergeschrieben, auf Aufforderung der Opferhilfe. An einem Dienstag vor Ostern 2012 war sie erstmals beim Heiler. Gegen ihre furchtbaren Schmerzen schien er ihr eine letzte Rettung bieten zu können, ihre Freundin hatte ihn dafür empfohlen.

Aber ich habe das Gefühl, an jenem Karfreitag vor sechs Jahren in eine Falle gegangen zu sein, als der Mann meine Freundin weggeschickt hat.

Ich erzählte ihm von meinem schweren Leben, das durch Ärztepfusch einiges an meinem Körper kaputtgemacht hat und mich auch psychisch belastet. Ich habe offen erzählt, wie ich schon als kleines Kind von meinem Onkel und in der Schule von einem Lehrer sexuell missbraucht worden bin.

Meine Eltern waren ‘speziell’, hatten Alkoholprobleme, und so hatte ich niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte oder der mir von Hilfe erzählte. Er fragte mich noch, ob ich denn tatsächlich nie jemanden angezeigt habe.

So habe ich unbewusst das Signal gesendet: Männer, die mich missbrauchten, mussten keine Angst haben. Niemand würde mir helfen oder nur schon glauben. Damit war ich das perfekte Opfer. Und fühlte mich auch noch schuldig.

Horror bei vollem Bewusstsein

Und ich habe mich leider getäuscht: Habe dem Mann geglaubt, dass bei der Behandlung der Organismus heruntergefahren wird, dass niemand anderes dabei sein und mit fremder Energie stören darf. Man sei dann sehr müde, weshalb er auch noch grosszügig das Gästezimmer zur Verfügung stelle ... und überall hingen noch Jesus-Kreuze.

Ich habe einen Becher bekommen, bin trotz meiner Skepsis gedrängt worden, diesen zu trinken. Ich musste Jeans und Strumpfhosen ausziehen, weil er sonst nicht richtig arbeiten könne.

Was folgt, ist ein Horrortrip. Der Mann habe einen Mix von starken Schlaf- und Betäubungsmitteln in den Trank gemischt.

Weil ich aber wegen meiner starken Schmerzen schon selber auf starke Schmerzmedikamente angewiesen war, bin ich zwar wehrlos geworden, habe aber alles mitbekommen. So, wie wenn eine Narkose nicht genügend wirkt. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, nicht schreien. Ich wünschte nur noch, tot zu sein und nichts mehr miterleben zu müssen.

Es dauerte mehr als eine Stunde lang. Dieser massive sexuelle Missbrauch war für mich mehr als die Hölle auf Erden. Als ich dann erwachte, wollte ich nur noch weg. Ich hatte so Angst, er könnte merken, dass ich alles mitbekommen habe, und könnte mich deswegen umbringen wollen.

Ihre Freundin holte sie nach der «Behandlung» ab.

Sie half mir aufstehen und mich anzuziehen. Ich sprach kein Wort mit ihr, der Schock hatte mir die Sprache verschlagen. Und erst zu Hause ging die Wirkung des Schlafmittels langsam weg. Ich weinte, weinte, weinte nur noch. Dann brauchte ich lange, um es meiner Freundin zu erzählen.

Ich duschte mich eine Ewigkeit, um den ganzen Dreck und Ekel abzuspülen. Doch das ging nicht, Schmerzen im Intimbereich und grausame Bilder lassen sich nicht abspülen. Wenn meine Freundin mich allein gelassen hätte, hätte ich mich bestimmt umzubringen versucht. Doch wer so unter Schock steht und nie erfahren hat, was Hilfe bedeuten kann, kommt nicht auf die Idee, zur Polizei zu gehen. Immerhin ging ich in äusserster seelischer Not zum Arzt. Ausserdem ist die Scham unglaublich gross, man kann sich das fast nicht vorstellen.

Unglaublich langes Verfahren

Von der ermutigenden Reaktion des Arztes, der mich zur Opferhilfe schickte, war ich sehr positiv überrascht. Doch auch was dann kam, kostete sehr viel Kraft. Nach meiner Anzeige in Basel bin ich bald von einer Staatsanwältin an zwei Tagen befragt worden. Ich schöpfte Hoffnung auf Gerechtigkeit. Doch dann dauerte es drei Jahre, bis es endlich zur zweiten, schmerzvollen Befragung kam. Am schlimmsten war der Vorwurf des Verteidigers, ich hätte es ja selber gewollt, sonst wäre ich davongelaufen.

An jedem Karfreitag kommt die Erinnerung besonders stark wieder. Diesmal sind es sechs Jahre seit der Tat. Und immer noch gibt es kein Gerichtsurteil. Sechs Jahre der Qualen, die mich das Erlebte mit diesen unvergesslichen, grausamen Bildern und Schmerzen immer wieder durchleben lassen.

Eine junge Frau ist laut Anklage ungefähr drei Jahre nach Petra Leis missbraucht worden, und deren Mutter zeigte den Mann sofort an. Die Polizei griff ein und sicherte DNA-Spuren.

In so einem Prozess sind die Zweifel an einem Opfer so viel grösser als die Zweifel an einem Täter. Die Befragung im Herbst 2017 war ganz schlimm für uns Opfer. Die Strafverfolgungsbehörden haben uns über Jahre allein gelassen. Es wäre doch so wichtig, den Opfern beizustehen und nicht den Prozess dermassen in die Länge zu ziehen.

Die Therapeutin, die bei der Befragung Petra Leis begleitete, erklärt: «Die Opfer müssen jedes Mal das Geschehene wiedererleben.» Leis habe so geweint, dass sie als Therapeutin um eine Pause habe bitten müssen: «Das ist ein Ausnahmezustand.»

Zu einer Befragung des Beschuldigten sagt die Therapeutin: «Das hatte Stammtischcharakter, wie sich Angeklagter, Staatsanwalt und Verteidiger unterhalten haben und Witzchen gerissen haben. Und dies in Gegenwart der Opfer. Ich war erschüttert.» Es fehlte an Ernsthaftigkeit, Professionalität, Einfühlungsvermögen, so die Therapeutin.

Im Prozess hat das Gericht erlaubt, auch noch Akten aus zwei weiteren Verfahren von 1998 und 2000 beizuziehen. Dazu sagte der Staatsanwalt in der Verhandlung: «Es geht um zwei Frauen, die sich in letzter Verzweiflung an den Beschuldigten wandten und Besserung erhofften. Sie haben ihn beim Verhöramt angezeigt.» Letztlich habe Aussage gegen Aussage gestanden, man habe das Verfahren ohne weitere Beweise einstellen müssen.

Für mich ist das ein Grund mehr, an Gerechtigkeit zu zweifeln.

Umso mehr, als bereits das erste Verfahren eine Konsequenz hatte: Der Beschuldigte wurde laut der damaligen Einstellungsverfügung aus dem Schweizerischen Verband für natürliches Heilen ausgeschlossen. Dessen Verhaltenskodex verweist auf den Eid des Hippokrates, welcher das Zufügen jeglichen Schadens, auch sexuellen Missbrauch, an Patienten untersagt.

Die Psychotherapeutin sagt dazu: «Das schreit zum Himmel, nichts wurde unternommen, um die Bürger zu schützen, obwohl es immer wieder Verfahren gab.» Das sei doch Aufgabe des Rechtssystems.

Das Leiden geht weiter

In der Zeit seit dem Missbrauch war ich zweimal stationär in einer psychologischen Klinik. Denn ich wurde mit dem Erlebten nicht alleine fertig, und meine Partnerin hat sich immer mehr verschlossen. Sie hatte Schuldgefühle, weil sie meinte, sie habe mich ja zum Beschuldigten gebracht. Auch finanziell geht es mir nicht gut, ich muss von einer IV-Minimalrente leben.

Seit acht Jahren bin ich mit einer Frau zusammen, das ist das Beste, was mir passieren konnte. Auch meine Freundin hat seit ihrer Kindheit und über viele Jahre solch schlimme Erfahrungen machen müssen. Wir beiden schwiegen lange aus Schuld- und Schamgefühlen. Die Erlebnisse vor sechs Jahren haben unsere Beziehung auf eine harte Probe gestellt, und sie hat nur dank der Therapien überlebt. Der gemeinsame Kampf hat uns letztlich Kraft gegeben, und Achtung und Liebe sind immer tiefer geworden. Wir versuchen täglich, den Lebensmut nicht zu verlieren und uns auch an kleinen Dingen zu freuen. Wir hoffen, auch Gerechtigkeit zu erfahren.

* Name von der Redaktion geändert

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Zu diesem Artikel:Wer glaubt im Jahr 2018 noch an einen Heiler. Vermutlich nur Frauen.Nach meiner Ansicht sind das alles nur Scharlatane.Und sollen ohne wenn und aber verurteilt werden.Geht in das gleiche Kapitel wie Sekten.

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